Der Landeschef und seine politische Erbin: Erwin Pröll und Nachfolgerin Johanna Mikl-Leitner beim Landesparteitag der ÖVP Niederösterreich 2022.

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Die Geschichte des ORF Niederösterreich ist eine Geschichte eines trauten Naheverhältnisses zwischen öffentlichem, GIS-gebührenfinanziertem Rundfunk und der ÖVP-Landespolitik, nicht erst seit DER STANDARD, SPIEGEL und die "Presse" am Freitagabend Unterlagen, Chats und Mails von Robert Ziegler als Chefredakteur veröffentlichten.

Seit Jahrzehnten fällt das Studio selbst unter den neun "Bundesland heute" besonders auf als eine Art Landeshauptmannfernsehen – oder nun Landeshauptfrau-TV. Ein Rückblick in zehn Schlaglichtern.

Das Dossier über Zieglers Wirken als Chefredakteur von 2015 bis 2021 zeigt die Bevorzugung der das Land seit Jahrzehnten dominierenden Volkspartei und ihrer Proponenten vom Landeschef abwärts. Ziegler dementiert diese Bevorzugung, nennt die Vorwürfe "diffus" und "teilweise abstrus" und kann sich an einige der geschilderten Vorfälle nicht erinnern.

1. Strasser sei Dank

In "Niederösterreich heute" vorzukommen ist offenbar selbst ÖVP-Politikern sehr wichtig, die es in die Bundespolitik geschafft haben. Ernst Strasser, damals Innenminister in der ersten Koalition von ÖVP und FPÖ, beschwerte sich im Juni 2002 beim Chefredakteur des Landesstudios Niederösterreich. Strasser war beim Sommerfest der ÖVP Niederösterreich, aber er fand sich nicht in "Niederösterreich heute" wieder – und beschwert sich daraufhin beim Chefredakteur des Landesstudios, Richard Grasl.

Grasl kann Strasser beruhigen: "Lieber Ernst! Nie im Leben würde ich daran denken, den Innenminister beim Sommerfest nicht herzuzeigen. Zweimal warst du im Bild – einmal kurz klatschend bei der Späth-Rede, einmal länger, als sich der Späth wieder neben dich hingesetzt hatte. Musst du übersehen haben."

Im März 2002, wenige Stunden nach seiner offiziellen Bestellung zum Chefredakteur des Landesstudios Niederösterreich, dankt Grasl dem früheren ÖVP-Landesgeschäftsführer und heutigen Innenminister Ernst Strasser per Mail, die Peter Pilz später veröffentlichte: "Ich weiß ja offiziell nicht, ob du deine Finger dabei irgendwie im Spiel gehabt hast ... Aber ich danke dir jedenfalls für deine bisherige Unterstützung!"

Stellvertreter Grasls in der Niederösterreich-Chefredaktion wird 2003 Roland Weißmann, der seinen Berufsweg bis zur Niederlage Grasls mit den Stimmen von ÖVP und FPÖ gegen Alexander Wrabetz bei der ORF-Generalswahl 2016 begleitet.

Nach Grasls Niederlage im Stiftungsrat wird der damalige Landeshauptmann Erwin Pröll gleich eine Gremienreform des ORF verlangen: "Ich bin über das Verhalten der sogenannten unabhängigen Stiftungsräte schon verwundert", sagt Pröll damals dem "Kurier". Er würde dort in Zukunft lieber "tatsächlich Unabhängige" sehen. Es brauche Leute im obersten Aufsichtsgremium, "die die Zukunft des ORF im Blick haben und nicht einzelne Interessen".

Ohne Reform und weiter nach dem ORF-Gesetz von ÖVP und FPÖ aus dem Jahr 2001 wird Roland Weißmann 2022 mit einer bürgerlichen Mehrheit und Stimmen vom Regierungspartner, den Grünen, Norbert Steger (FPÖ) und den Betriebsräten ORF-Generaldirektor.

2. ORF-Chefredakteurin wird Landesrätin

Die Beschwerde Strassers über "Niederösterreich heute" im Juni 2002 nutzte Grasl gleich, um dessen Personalwünsche zu bestätigen: "Danke für den Hinweis wegen Teschl-Anstellung, ist sehr hilfreich!" Christiane Teschl arbeitete seit 1998 für den ORF in St. Pölten.

2010 rückt Grasl zum Finanzdirektor des gesamten ORF auf – damit die Regierungspartei ÖVP ihre Blockade von 160 Millionen Euro aus dem Bundesbudget aufgibt, die dem ORF befristet Einnahmenentgang durch Gebührenbefreiungen abgelten. Damals schreibt der ORF im Gefolge der Finanzkrise Verluste von 80 Millionen Euro.

Teschl wird nach Grasls Aufstieg Chefredakteurin des Landesstudios, bis sie in dem Job 2015 dem bisherigen Vize und Betriebsrat Robert Ziegler Platz macht und auf den Küniglberg zu "Guten Morgen Österreich" wechselt.

Immerhin gibt es damit eine Zwischenstation zwischen Chefredaktion und Landespolitik: 2018 wird die frühere Chefredakteurin Teschl-Hofmeister Soziallandesrätin in Niederösterreich. Das ist in der Geschichte nicht der einzige Wechsel vom ORF zur Politik – Josef Broukal und Eugen Freund etwa übersiedelten zur SPÖ, Ursula Stenzl zunächst zur ÖVP und später zur FPÖ. Programmchefin im ORF Burgenland war die spätere ÖVP-Mediensprecherin und heutige Volksanwältin Gaby Schwarz. Helmut Krieghofer war Journalist und Moderator im ORF Tirol, dann dortiger Landesgeschäftsführer der ÖVP und später ORF-Landesdirektor. ÖVP-General- und Ministersekretäre wiederum wurden im ORF Generalsekretäre, Direktoren und auch Landesdirektoren – wie Paul Twaroch, der den ORF-Niederösterreich bis 1998 über zwei Jahrzehnte führte.

3. Der ORF-Direktor als "treuer Begleiter"

"Treuer Begleiter", so nannte Niederösterreichs Langzeitlandeshauptmann Erwin Pröll ORF-Landesdirektor Norbert Gollinger, als er ihm 2016 das Goldene Komturkreuz verlieh. Der bürgerliche "ZiB"-Journalist wechselte 1998 als Chefredakteur ins Landesstudio an der Traisen und war fortan tatsächlich im Windschatten des Landeshäuptlings und der ORF-Kameras auf Achse durch das größte Bundesland. Pröll dankte Gollinger "herzlich" für seine "jahrzehntelange Begleitung".

Durch kritische Distanz zur Landespolitik war das Studio schon zuvor nicht aufgefallen, Pröll aber perfektionierte als Landeshauptmann von 1992 bis 2017 die blau-gelbe Variante der Message-Control. Wer durch Kritik unangenehm auffällt, muss sich umschauen, wo Werbebuchungen öffentlicher Stellen bleiben. Wer ORF-Landesdirektor sein oder bleiben will, braucht seinen Segen.

4. Der Hebel des ORF-Gesetzes

Das ORF-Gesetz liefert dazu noch einen Hebel: ORF-Generaldirektoren müssen Landeshauptleute über ihren Kandidaten oder ihre Kandidatin informieren und sie dazu anhören, bevor sie dem Stiftungsrat Landesdirektoren vorschlagen.

Neun der 35 ORF-Stiftungsräte kommen aus den Bundesländern. Bei knappen Mehrheiten können jene Länderstimmen bei ORF-Generalswahlen (auch über Parteigrenzen hinweg) den Sieg ausmachen, deren Landeshauptleuten der Generalskandidat den erwünschten ORF-Landesdirektor versprochen hat.

2011 wurde der bürgerliche Tiroler ORF-Stiftungsrat gleich nach der Wahl von Alexander Wrabetz Landesdirektor (und ein roter Technikbetriebsrat Technikdirektor). Der damals bürgerliche Betriebsrat und Stiftungsrat Robert Ziegler sollte nach Wrabetz' Wahl zum Bundesländerkoordinator aufrücken. Daraus wurde wegen einer großen Politbesetzungsdebatte nichts – und Ziegler dann erst 2015 Chefredakteur in Niederösterreich.

5. "Ich will jetzt die Lindner"

Monika Lindner, von 1998 bis 2001 ORF-Landesdirektorin in Niederösterreich, danach ORF-Generaldirektorin dank ÖVP-FPÖ-Mehrheit im ORF-Stiftungsrat, sprach 2013 in einem Buch recht offen über ihre Erfahrungen mit Pröll und der Landespolitik.

Pröll habe sie zunächst als Landesdirektorin abgelehnt, als der damalige ORF-Generalintendant Gerhard Zeiler sie für die Position ins Spiel gebracht hatte: Pröll habe jedes Mal Nein gesagt, wenn Zeiler ihren Namen genannt hatte. Ein Mittagessen mit dem mächtigen Landeschef und ÖVP-Politiker drehte schließlich die Stimmung. "Der Pröll erzählt heute noch gern, dass er danach seinen engsten Mitarbeiter angerufen und ihm gesagt hat, er sei der schlimmsten Intrige aufgesessen: Rufen S' den Zeiler an und sagen Sie ihm, ich will jetzt die Lindner." Er bekam sie – und unterstützte schließlich auch wesentlich ihren Aufstieg an die ORF-Spitze.

6. "Die Flugrichtung des Heiligen Geistes" in Niederösterreich

Wie wenig Verständnis der damalige Landeshauptmann für die TV-Präsenz seiner Mitbewerber im Landesstudio hatte, lernte Lindner durch ein Interview mit dem niederösterreichischen SPÖ-Politiker und damaligen Innenminister Karl Schlögl.

Lindner über die Folgen: "Wir haben einen Rüffel bekommen, was uns einfällt, den Schlögl zu interviewen und in Niederösterreich eine Geschichte über ihn zu machen. Wir sind zu keiner Pressekonferenz und keiner Veranstaltung mehr eingeladen worden. Es herrschte Eiszeit." Eines Tages sei sie dann von Pröll "zum Rapport" bestellt worden. "Wir hatten eine lange Aussprache unter vier Augen, wo ich versucht habe, dem Landeshauptmann klarzumachen, dass ich die Flugrichtung des Heiligen Geistes in Niederösterreich schon kenne, dass ich aber auch dem Rundfunkgesetz und damit der objektiven Berichterstattung verpflichtet bin. Es war ein langes Gespräch, sehr ernsthaft. Und seit damals habe ich keine Probleme mehr gehabt."

Spätestens seither ist in der Chefredaktion des Landesstudios klar, wer in "Niederösterreich heute" vorzukommen hat – und wen man besser nicht aktiv fragt.

7. ÖVP-Geschäftsführer prangert "brutale Intervention" an

Die etwas andere Weltsicht aus der Perspektive des Landesstudios sorgte auch schon für schwere Verwerfungen mit der Redaktion von ORF.at.

Ende Mai 2007 besuchte Kanzler Alfred Gusenbauer (SP) Niederösterreichs Landeshauptmann Erwin Pröll (VP). ORF Niederösterreich bastelte eine Meldung für ORF.at, Tenor: Gusenbauer wolle die Schengen-Grenzen zu Niederösterreichs Nachbarstaaten doch nicht so rasch öffnen. Die Austria Presse Agentur (APA) schrieb über das Treffen indes: "Kanzler: Bei Schengen 'wenig zu verhandeln'."

Auf die Diskrepanz machte abends ein Pressemitarbeiter des Bundeskanzlers die Redaktion von ORF.at aufmerksam, sie passte den Inhalt an die APA-Wahrnehmung an und informierte die Kollegen in Niederösterreich.

Tags darauf ritt der damalige ÖVP-Landesgeschäftsführer Gerhard Karner, heute Innenminister, per OTS-Aussendung aus: "Eine brutale SPÖ-Intervention beim ORF", konstatierte Karner: "So wurde ein Beitrag über die Sicherheit der Schengen-Grenze in Niederösterreich über Nacht radikal verdreht."

Die ORF.at-Redakteure weisen das damals in einer internen Stellungnahme entschieden zurück: Der Abendredakteur habe "unter Einhaltung der journalistischen Sorgfaltspflicht richtig entschieden und einen nachweisbar falschen Artikel korrigiert". Die Redaktion im Landesstudio Niederösterreich habe er "nachvollziehbar rechtzeitig informiert", heißt es weiter in der Stellungnahme. NÖ-Chefredakteur Richard Grasl und die Chefin seiner Internetredaktion hätten "nicht einmal das Mindestmaß an Kollegialität und journalistischer Sorgfalt eingehalten": Die Online-Chefin habe Grasl die E-Mail aus Wien "unmittelbar weitergeleitet", nicht aber bei ORF.at nachgefragt. Das wiederum weisen Grasl und Landesdirektor Gollinger als falsch zurück. Die Darstellung des ORF Niederösterreich decke sich mit anderen Medienberichten über Bedingungen für den damaligen Schengen-Beitritt der Slowakei.

Gegen die "brutale Intervention" protestiere "ebenjener Karner, der in seiner Funktion als Pressesprecher von Innenminister Ernst Strasser selbst permanente Pressionen auf die Redaktion von ORF.at ausgeübt hat", heißt es in der internen Stellungnahme von ORF.at.

Im Rahmen einer ORF-internen Untersuchung fand man weder bei ORF.at noch beim ORF Niederösterreich Verfehlungen in dieser Sache.

Die Aussendungen von Karner zeichnen im Rückfragehinweis die damaligen Presse-Mitarbeiter der ÖVP Niederösterreich, Philipp Maderthaner (inzwischen Gründer und Mastermind der Agentur Campaigning Bureau) und Gerald Fleischmann (nun Kommunikationschef der ÖVP).

8. Direktschaltung zu Prölls Partyschiff

Trost spendete der ÖVP die ORF-Unterhaltung etwa 2013: "Mei liabste Weis" schaltete am Samstagabend im Juni 2013 zu Landeshauptmann Pröll und dessen Sonnwend-Party auf einem Donauschiff. Der ORF-Redakteursrat protestierte mit Verweis auf die damals anstehende Nationalratswahl gegen "grundsätzlich problematische Auftritte von Politikern in Sendungen, die nicht der Information über das politische Geschehen dienen".

Verantwortlich für die Musiksendung ist allerdings das Landestudio Tirol – wenige Wochen zuvor sorgten die Innsbrucker Kollegen mit einem Auftritt von Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) "als großer Freund der Blasmusik" in "Mei liabste Weis" vor der Landtagswahl für Aufregung.

9. Vernachlässigte FPÖ

Vom Landesstudio vernachlässigt fühlen sich andere Fraktionen schon länger: 2002 beklagt sich Dieter Böhmdorfer, Justizminister und Spitzenkandidat der FPÖ in Niederösterreich, dass "Niederösterreich heute" etwa seine erste Pressekonferenz als Listenführer ignoriert habe.

10. "Pröll war ein starkes Redaktionsmitglied"

Die neun Fernseh-Regionalsendungen der Landesstudios hat Thaddäus Podgorski als ORF-Generaldirektor 1988 eingeführt. Im STANDARD-Interview zu den ersten drei Jahrzehnten von "Bundesland heute" wollte der Ex-General nicht beurteilen, welcher Landespolitiker dort am häufigsten intervenierte. Er sagte nur, mit großem Hang zur Ironie: "Erwin Pröll war ein starkes Redaktionsmitglied." (fid, 19.12.2022)