Manche Frauen zeigen auf Tiktok, was die Filter mit ihren Gesichtern anstellen. Ganz so offen über diese Manipulation reden aber nur wenige.

Foto: Tiktok

Sex, Gewalt und Humor. Das Basisrezept für Tiktok, mit aktuell rund einer Milliarde Nutzerinnen und Nutzern die erfolgreichste App der Welt, ist simpel. Die vom chinesischen Unternehmen Bytedance betriebene Video-App lebt vor allem durch den "user generated content" und dem höchst erfolgreichen Algorithmus, der schnell die Vorlieben des Gegenübers kennenlernt. Hinzu kommt eine schwache Moderation, die fragwürdige Inhalte spät oder gar nicht löscht.

Speziell für Kinder und Jugendliche, noch immer die Hauptzielgruppe der App, sind das schwierige Voraussetzungen, um sich von Tiktok losreißen zu können. Es ist cool, Fußballstars wie Messi auch in dessen Privatjet folgen zu können, schnell mal ein sexy Tanzvideo mit Freunden zu teilen oder einfach spannende Inhalte auf sich einprasseln zu lassen.

Aber gerade wegen der leichten Zugänglichkeit sollte man ein paar Punkte bedenken, bevor man sich darüber freut, dass das eigene Kind endlich Teil einer kreativen Social-Media-Plattform geworden ist.

1. Süchtig machend

Rund 52 Minuten verbringen Nutzerinnen im Schnitt täglich mit der App. Es kann aber auch weit mehr sein, wie etwa der 17-jährige Tiktok-Star Michael Skopek kürzlich im STANDARD-Interview bestätigte. Stundenlang hängen Jugendliche oft in dieser Dauerschleife an Videos, die manchmal nur ein paar Sekunden lang sind. Die zwei Gründe für den nahezu perfekten Videostream für jeden einzelnen Nutzer sind zum einen der Algorithmus und zum anderen die Unberechenbarkeit.

Der Algorithmus lernt schon nach wenigen Videos – vor allem wenn man den Like-Button aktiv nutzt – bei welchen Inhalten verweilt und bei welchen weitergescrollt wird. Sexuelle Orientierung, Interessen und politische Ausrichtung werden so analysiert und passende Inhalte ausgespielt. Ziel ist es, den Nutzer möglichst lange im Videostream zu halten. Die Zahlen zeigen, dass das funktioniert.

Hinzu kommt die Unberechenbarkeit der Inhalte. Das können für das eigene Hirn positive oder negative Inhalte sein. Positive sind etwa jene, auf die man sich beim Durchscrollen der Inhalte schon freut. "Unberechenbare Belohnung" wird das auch im Fachjargon genannt, wenn sich der Körper schon darauf einstellt, bald Dopamin ausstoßen zu dürfen, ganz ähnlich wie beim Glücksspiel.

Fragwürdige Inhalte sind jeder und jedem zugänglich, der die kostenlose App nutzt.
Foto: Tiktok

Ebenfalls für starke Reaktionen sorgen aufwühlende Inhalte. Auch wenn man noch nie ein Kriegsvideo geschaut hat, flimmern plötzlich Bilder aus der Ukraine über den Bildschirm, wie etwa ein Panzer mehrere Soldaten von einem Hügel schießt. Auch sich todbeißende Straßenhunde oder das brutale Zusammenschlagen von Menschen, etwa bei Demonstrationen, werden ohne Vorwarnung gezeigt. Hinzu kommt eine Vielzahl an sexistischen Beiträgen. Männer wie Andrew Tate, der nur ein Extrembeispiel für sexistische Kommentare auf der Plattform war, aber auch Frauen, die sich gerne in aufreizenden Posen zeigen oder sexuelle Handlungen antäuschen, um ein paar Likes mehr zu erhalten.

2. Zensur & Falschinformation

Zum Thema Zensur gibt es ebenfalls zahlreiche Beispiele. Eines waren etwa die Proteste in Hong Kong, die von der Plattform quasi totgeschwiegen wurden. Auch zu den Themen der taiwanischen Unabhängigkeit oder der religiösen Gruppe Falun Gong werden laufend Beiträge gelöscht. Die US-Tiktokerin Feroza Aziz wurde kurzfristig aus ihrem Account gesperrt, nachdem sie in einem Beitrag auf die Notlage der Uigurischen Muslime in China hingewiesen hat. Das Löschen solcher Videos durch die Plattform nennt sie kurz darauf "rassistisch".

Was politische Inhalte betrifft, fährt die Plattform doppelgleisig, lässt sie doch zeitgleich zahlreiche fragwürdige Inhalte zu, die etwa mit bestehenden Weltanschauungen kollidieren oder große Verschwörungstheorien aufstellen. Mittlerweile nutzen auch politische Interessensgruppen Tiktok als Propaganda-Mittel. Der russischen Regierung konnte beispielsweise schon nachgewiesen werden, dass sie Tiktok-Prominente für gleichgeschaltete Beiträge angeworben hatte. So konnten durch koordinierte Kampagnen Millionen von Jugendlichen mit der gewünschten Botschaft erreicht werden.

3. Aufmerksamkeitsspanne wird verkürzt

Im Jahr 2021 wurde eine Studie veröffentlicht, die sich Tiktok Use Disorder (TTUD) nannte. Darin wurde festgestellt, dass Vielnutzer der App Probleme hatten sich an Dinge zu erinnern. Ebenfalls konnte die Studie bei der Testgruppe eine höhere Quote an Erschöpfung und Depression erkennen. Obwohl die Studie offen lässt, ob erschöpfte und depressive Menschen generell vorher schon mehr Tiktok nutzten als andere, zeigt sie doch, dass es einen Zusammenhang zwischen einer angeschlagenen mentalen Gesundheit und der Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne gibt.

4. Selbstwahrnehmung

Kinder und Jugendliche, die Hauptzielgruppe der App, befinden sich in einer verletzlichen Lebensphase. Sie sind deshalb anfällig für Vorbilder und Maßstäbe, die im echten Leben eigentlich nicht erreichbar sind. Gerade auf Tiktok wird sehr viel mit Filtern gearbeitet und so Gesichter einem vermeintlichen Schönheitsideal angepasst oder Hautunreinheiten beseitigt. Da diese Filter nicht in irgendeiner Form markiert sind, ist das Resultat oftmals ein ungesundes Vergleichsdenken und möglicherweise ein damit sinkendes Selbstwertgefühl.

Eine US-Tiktokerin zeigte beispielsweise vor ein paar Monaten in einem Video, wie sie im Urlaub ihr Hotelzimmer in Südkorea betritt. Kurz darauf aktiviert sie Tiktok und merkt, dass sich zahlreiche Schönheitsfilter automatisch aktiviert hatten – ohne ihr Zutun. Offenbar erkennt die App in welchem Land man ist und passt die Schönheitsfilter dementsprechend an.

5. Cyberbullying & gefährliche Trends

Genau wie auf allen anderen Social-Media-Plattformen gibt es auch auf Tiktok Hass im Netz. Besonders gefährlich ist das natürlich, wenn die teils Minderjährigen von solch einer Hasswelle überrascht werden. Immer wieder fällt Tiktok damit auf, dass extra für Online-Beleidigungen eigene Accounts angelegt werden. Auch größere Content-Creator beschweren sich regelmäßig darüber, dass auch sie Opfer täglicher Beleidigungen sind.

Zusätzlich fällt die Plattform immer wieder mit gefährlichen Trends auf. So bewarben zahlreiche Influencerinnen im Februar etwa Nasensprays, die "von innen" Sonnenbräune verleihen sollten. Im Sommer verstopften Jugendliche weltweit Schultoiletten mit Klopapier und zündeten es teilweise sogar an. Die Liste ließe sich beliebig erweitern, etwa durch in Hustensaft gekochtes Huhn oder Autodiebstähle mit USB-Kabel. Jugendliche werden hier regelmäßig zu dummen und gefährlichen Aktionen motiviert – die Plattform reagiert hier oft spät oder gar nicht, um das zu unterbinden.

6. Datenlücken

Tiktoks Umgang mit den Daten seiner Nutzerinnen und Nutzer hat bereits wiederholt für Aufregung gesorgt. So musste die Firma hinter der Video-App rund 75 Millionen Euro Entschädigung zahlen, weil man gegen geltende Datenschutzbestimmungen verstoßen hat. Es wurden etwa Gesichtsdaten Minderjähriger gesammelt und Daten ungefragt zum Training von KI-Systemen genutzt. Tiktok will alles über seine Kunden wissen, verlangt Zugriff auf Kontakte und das generelle Nutzerverhalten inklusive GPS-Daten. Auch wird dem Unternehmen immer wieder die Nähe zur chinesischen Regierung vorgeworfen, die offenbar bei Bedarf auch Einblicke in heikle Daten der Plattform hat.

Regelmäßig fragt die App, ob man nicht die eigenen Kontakte freigeben möchte.
Foto: Tiktok

Zusätzlich kommt die Naivität vieler Nutzerinnen und Nutzer hinzu, die ohne die Konsequenzen abschätzen zu können, Videos oftmals in privaten Räumen filmen oder vor ihrem Haus beziehungsweise dem Auto der Eltern. Das, in Kombination mit der offenen Kommunikation über den Lebensmittelpunkt, ist ein großes, zusätzliches Sicherheitsrisiko.

Fazit: Genau hinsehen

Es ist schwierig, den eigenen Kindern die populärste Jugendplattform der Welt zu verbieten. Dennoch sollte man gelegentlich einen Blick in den Feed von Tiktok werfen, um zu sehen, was der Algorithmus gerade an das eigene Kind ausspielt. Ein Blick in den Menüpunkt "Privatsphäre und Einstellungen" ist zudem zu empfehlen. Dabei sollte man etwa darauf achten, dass Videos nicht automatisch mit anderen Social-Media-Plattformen verknüpft sind und erstellte Inhalte gleich auch dort verbreitet werden.

Stellt man das Profil auf "privat", kann zudem der Inhalt nur von ausgewählten Nutzerinnen gesehen werden und Anchatten durch Fremde wird so zusätzlich unterbunden. Auch die Nutzungsdauer kann beispielsweise auf eine Stunde reduziert werden. Hilfreich ist auch der neue "Begleiteten Modus". Dank diesem kann man vom eigenen Handy aus diverse Sicherheitseinstellungen am Smartphone des Kindes vornehmen.

Dazu muss man auf beiden Handys in die Einstellungen und dort "ebenfalls den Punkt "Privatsphäre und Einstellungen" wählen. Unter dem Menü "Digital Wellbeing" findet man den Modus, den man auf beiden Smartphones aktivieren muss. Sobald die zwei Geräte miteinander verbunden wurden, hat man ein wenig mehr Kontrolle über den hauseigenen Umgang mit der umstrittenen App.

(Alexander Amon, 18.12.2022)