In Bondy ziert Mbappé mehr als nur eine Hausfassade.

Foto: AP/Thibault Camus

Irgendwann in der zweiten Halbzeit hielt es Rachid nicht mehr aus: Verärgert über den Spielverlauf, frustriert über "seine" Mannschaft verließ er den Sportpalast von Bondy nordöstlich von Paris und trat mit seiner Frankreich-Fahne über den Schultern den einsamen Heimweg an. Als er zu Hause ankam, glaubte er zuerst seinen Worten nicht: Seine Töchter riefen ihm vom Sofa entgegen, Mbappé habe soeben zwei Tore geschossen und ausgeglichen.

Wahnsinn. "Jetzt bin ich wieder da", lacht der marokkanischstämmige Einwohner im Palais de Sport von Bondy, der Heimatstadt von Kylian Mbappé. Obwohl der Frankreich-Fan schreit, ist seine Stimme in dem allgemeinen Tohuwabohu kaum zu verstehen. Der Saal steht kopf, bald droht er überzukochen. Die Lethargie der ersten 80 Spielminuten, die Kirchenstille in dem ungeheizten Saal ist wie weggeblasen. Dunkler und dunkler war es geworden, nur zwei Boxringe blieben erleuchtet, und Bondy war k. o.

Dann der Ausgleich durch Mbappé – hier in Bondy nur Kylian genannt – binnen zweier Minuten. So ist Frankreich: zu Tode betrübt, dann im siebenten Himmel – mit Blick auf den dritten Stern für den dritten WM-Titel, den die "Bleus" holen wollten.

Wo die Équipe die Leute begeistert

Rachid findet keine Worte mehr, er schreit nur noch in den und mit dem Saal: "Wer nicht aufsteht, ist nicht Franzose!" Im Saal sitzt längst niemand mehr. Das vielleicht Erstaunlichste: Das Durchschnittsalter dürfte nicht mehr als 15 Jahre betragen. Kinder, Jugendliche und ein paar Erwachsene aller Herkunft leiden, jauchzen, kreischen zusammen.

Hier ist der Fußball noch wirklich ein gesellschaftlicher Kitt, wie auch Bürgermeister Stephen Hervé in einem ruhigen Moment sagt. Im übrigen Frankreich wecken die "Bleus" weniger Leidenschaften; Rechtsextremisten stören sich lauthals an der "Kolonialmannschaft", würden gar lieber das N-Wort verwenden; und auch andere Franzosen machen keinen Unterschied zwischen den Banlieue-Bewohnern hier in Bondy und den Randalierern, die den Fußball missbrauchen, um Krawall zu machen.

Ja, auch in Bondy mag es solche Randalierer geben; die verarmte Stadt zwischen Autobahnkreuz und Wohntürmen war 2005 sogar ein Hotspot der großen Banlieue-Unruhen gewesen. Aber jetzt herrscht Eintracht im Sportpalast, der so gar nichts von einem Palast hat. In der Verlängerung ist die Spannung nicht mehr auszuhalten. Als Mbappé noch einmal zum 3:3 ausgleicht, gellt ein einziger Schrei durch den Saal.

Stille, nichts als Stille

Jean-Claude ruft seiner Gefährtin zu: "Mein Herz klopft, ich halte es nicht mehr aus. Wenn wir gewinnen, werde ich noch eine Herzkrise davontragen! Und gewinnen werden wir", lacht der Malier mit der Strickmütze. Er irrt: Mbappé versenkt seinen Penalty noch souverän, doch dann bricht das Elend über den Saal hinein. Argentinien hat gewonnen. Stille, nichts als Stille. Nicht einmal mehr ein "non" ist zu hören.

Schweigend erheben sich die Leute, wie unter Schock verlassen sie den Saal. Kaum jemand sagt ein Wort – als ginge gerade ein aufwühlender Spielfilm zu Ende. Man hört nur ein paar Kommentare: Messi habe es verdient, er gehe jetzt in die Fußballgeschichte ein.

"Kylian hat noch Zeit", sagt Jean-Claude. Bondy habe einige der besten Spieler hervorgebracht – Mbappé, William Saliba, Randal Kolo Muani –, Letzterer schoss mit seinem Penalty ebenfalls am argentinischen Torhüter vorbei.

In Bondy ein Held

All das kommt vielleicht nicht von ungefähr: Auch an diesem bitterkalten Sonntagnachmittag hatte man auf einem kleinen Fußballfeld des lokalen Klubs AS Bondy ein Dutzend Burschen beim Training verfolgen können. Sie spielten auf engstem Raum "Fußball-7", das eine unglaubliche technische Fertigkeit und Schnelligkeit abverlangt. "Wer sich hier durchsetzen will, muss stark sein", sagte Axel (29), ein Veteran, der Mbappé gekannt hatte, als er in der Volksschule auf dem gleichen Kleinterrain trainierte.

Am Sonntag hat Mbappé seinen zweiten WM-Titel verpasst. Der Held von Bondy ist er trotzdem. Auf der Seitenfassade eines elfstöckigen Gebäudes in Bondy sieht man ihn auf einem riesigen Wandgemälde als Burschen, der mit der Leibchennummer 10 auf einem Fußball als Kissen schläft. Viele der jungen Fans im Sportpalast werden am Abend ebenfalls mit dem Traum einschlafen, einmal so zu spielen wie Kylian – einmal WM-Finale wie dieses spielen. Einmal Messi sein, einmal Mbappé sein. Die Bleus haben verloren, aber der Fußballtraum geht in Bondy weiter. (Stefan Brändle aus Bondy, 19.12.2022)