Die jüngsten russischen Drohnenangriffe in der Umgebung von Kiew haben erneut die Zivilbevölkerung getroffen.

Foto: AFP / Sergei Chuzavkov

Seitdem Russlands Staatsmedien am Sonntag für diese Woche eine "wichtige Ankündigung" Wladimir Putins im Verteidigungsministerium versprachen, verzeichnen die Kreml-Auguren wieder einmal Hochkonjunktur. Kündigt der russische Präsident tatsächlich die große Winteroffensive an, vor der die ukrainische Führung vergangene Woche so eindringlich gewarnt hat?

"Vermutlich nicht", sagt der Innsbrucker Politologe und Russland-Kenner Gerhard Mangott im STANDARD-Gespräch: "Wenn Russland tatsächlich eine Offensive in der Ukraine plant, wird Putin das jetzt nicht ankündigen."

Die Warnungen aus Kiew erfüllen in Mangotts Augen eher den taktischen Zweck, den Westen zu weiterer Waffenhilfe zu überreden.

Russland krallt sich fest

An der Front kann Russland die frostigen Monate schließlich etwas gelassener abwarten als die Ukraine, die sich seit Monaten russischer Luftangriffe auf ihre Infrastruktur erwehren muss: Geländegewinne in Donbass halten, die mühsam mobilisierten Reservisten an die Front bringen und mittels Luftangriffen den Druck auf die Ukraine erhöhen, dürfte die Devise im Kreml lauten. Eine russische Winteroffensive im großen Maßstab, womöglich abermals gegen Kiew gerichtet, ist für Markus Reisner, Analyst an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt, derzeit aber nicht unmittelbar in Sicht: "Im Moment erkennen wir keine Indizien auf eine Truppenzusammenziehung, die für eine solche Offensive nötig wäre", sagt Reisner. "Wenn das so wäre, würden die US-Geheimdienste, etwa per Satellitenaufnahme, dies melden."

Moskaus Waffenarsenale sind zudem, etwa was Raketen und Drohnen betrifft, bei weitem nicht so leer wie mancherorts im Westen ersonnen. "Die Strategie der Russen wird sein, den Winter abzuwarten und die Ukrainer ausbluten zu lassen", sagt Reisner. Wie dies "on the ground" aussieht, ist derzeit im völlig zerstörten Bachmut in der Oblast Donezk zu beobachten: "Dort zielt die russische Armee auf einen Abnützungseffekt ab, weil die Reserven der Ukraine natürlich endlich sind."

Ohne Waffenlieferungen geht Kiew die Luft aus

Um die gegenwärtige Lage der Ukraine zu verdeutlichen, wirft Bundesheer-Analyst Reisner, der auch studierter Historiker ist, einen Blick in das Geschichtsbuch: "Wir sind momentan auf dem Weg vom Jahr 1914 zum Jahr 1915, das in Österreich-Ungarn vor allem von einem gekennzeichnet war: Ernüchterung."

Damals war es das kleine Serbien, das sich entgegen der k.u.k.-Kriegspropaganda keineswegs geschlagen gegeben wollte. Mehr als ein Jahrhundert später ist es die russische Luftwaffe, die im Frühling von westlichen Geheimdiensten so gut wie abgeschrieben wurde, die heute der Ukraine aber fortlaufend schwere Schäden zufügt. "Da müssen viele nun zähneknirschend zugeben, dass ihre anfängliche Euphorie voreilig war", sagt Reisner. Russlands Armee, so viel steht fest, ist noch lange nicht am Ende.

Für die Ukraine ergibt sich daraus aber auch ein gewichtiges Argument, warum sie weiter – und noch stärker als zuvor – auf westliche Militärhilfe, vor allem Flugabwehrwaffen, angewiesen ist. Zwar habe Moskau verstanden, dass seine Armee aufgrund zu weniger Soldaten der Ukraine aktuell nichts entgegensetzen kann, "auf der strategischen Ebene kann Russland aber nach wie vor entscheiden, wann, wo und in welchem Umfang es die Ukraine treffen will." Die Frage sei, ob die Ukraine nach einem Winter ohne Strom und Gas noch imstande sei, im Frühling wieder in die Offensive zu gehen, sagt Reisner.

Europa muss sich entscheiden

Fest steht: Ohne die Hilfe des Westens, allen voran die USA, kann die Ukraine die russischen Invasoren nicht bezwingen. Das ferne Washington liefert der Kiewer Regierung jene Waffen, die sie bei ihren Gegenoffensiven im Herbst erfolgreich eingesetzt hat.

Europa, das die Ukraine bisher schon vergleichsweise zögerlich mit Waffen versorgt, steht nach Ansicht von Reisner hingegen an einem Scheideweg: "Entweder wir entscheiden uns, mit allem was dazugehört an der Seite der Ukraine zu stehen. Oder wir sagen klar, dass wir dazu nicht bereit sind." Kiews Warnungen vor Putins Winteroffensive dürften genau das zu verhindern versuchen. (Florian Niederndorfer, 20.12.2022)