Mehr als 20 Jahre war Nurten Yılmaz als Politikerin im Amt. Nun wechselt sie vom Nationalrat in das Präsidium des SK Rapid Wien.

Foto: Regine Hendrich

Nurten Yilmaz über den Wechsel vom Gemeinderat ins Parlament: "Ich dachte damals, für mich ändert sich nur die Bühne, nicht das Stück. Aber es ändert sich alles."


Foto: Regine Hendrich

Abschiedsreden sind fast immer eine große, gar mächtige Gelegenheit. Vor allem für die Personen, die sich gerade im Aufbruch befinden. Da steht man und hat die Chance, herausragende Worte nachhallen zu lassen. Worte, die sich künftig in den personifizierten Erinnerungen festsetzen sollen. Manche nutzen diesen Moment für viel Pathos, andere für einen Rundumschlag, eine Abrechnung.

Als die rote Abgeordnete Nurten Yılmaz ganz in Grün gekleidet ihre letzte Rede im Nationalrat hält, ist keine Gemeinheit, keine Bösartigkeit zu hören, keine pathetische Ansage. Im Gegenteil: Die 65-Jährige bedankt sich. Bei jenen, die im parlamentarischen Alltag sonst keine Öffentlichkeit erhalten – den Mitarbeitenden im Hohen Haus, den Reinigungskräften, der Polizei und den Sicherheitskräften, "die immer da sind, auch wenn’s draußen 36 Grad oder minus zehn Grad hat". Ohne die Arbeiterinnen würde in diesem Land "nix gehen", sagte Yılmaz. Zum Abschluss zitiert die 65-Jährige Ostbahn-Kurti: "Lossts eich nix gfoin!" Ihre Schmunzler lassen ein wenig Wehmut durchschimmern.

Von Söke nach Ottakring

Nach neun Jahren als Abgeordnete zog sich Yılmaz Mitte Dezember aus dem Nationalrat zurück. Ein Mandat sei "nur Macht auf Zeit", sagte sie dort. Mit ihr saß nicht nur die zweite türkischstämmige Abgeordnete überhaupt, sondern auch ein Stück Wien und ein noch größeres Stück Ottakring im Parlament. Heute sei das Parlament zwar so divers wie noch nie, doch gerade Arbeiterinnen und Hackler seien weiterhin unterrepräsentiert. Nicht nur ihre Abschiedsrede, sondern auch ihre eigene Geschichte ist die eines Arbeiterkindes.

Yılmaz stammt ursprünglich aus dem türkischen Söke. 1966 wanderten die Eltern mit ihr und ihren zwei Brüdern aus der Stadt an der Ägäisküste ganz im Westen der Türkei nach Österreich aus. Der Vater war Schneider, die Mutter fand eine Anstellung als Fabriksarbeiterin bei Philips. "Wir waren die klassische Gastarbeiterfamilie", erinnert sie sich.

Wenn Yılmaz heute über ihre Anfänge in Wien, die Probleme von Familien mit Migrationshintergrund oder die ersten Berührungspunkte mit dem Fußball spricht, kommt sie gerne vom Hundertsten ins Tausendste, verliert ab und zu den Faden, aber sich selbst nicht in Belanglosigkeiten. Aus dem Kleinen, Unbedeutenden werden politische und gesellschaftliche Themen der Vergangenheit und Gegenwart. Aus dem Ottakringer Grätzel wird Österreich. Aus dem Marktbesuch ein Symbol für Internationalität und Multikulturalität. Man merkt schnell: Die Mutter von zwei Töchtern hat nicht aus der Politik ihr Leben, sondern aus ihrem Leben Politik gemacht.

Vom Kleinen ins Große

Und Politik ist im Grunde ein Geschäft mit der Glaubwürdigkeit. Yılmaz bezeichnet sich selbst als Sozialdemokratin, Sozialistin, Feministin, Gastarbeiterkind, Rapidlerin. Ihr politisches Dasein, ihr politisches Denken geht über den von ihr ungeliebten Begriff der Integration hinaus. Es geht ihr um Chancen von Mädchen und Frauen am Arbeitsmarkt, um Geschlechterrollen bei ihrem Enkel, um ihre Position beim SK Rapid, aber auch um den Wandel von migrantischen Minderheiten und den Zusammenhalt im Grätzel. Wenn sie vom 16. Bezirk spricht, schwingen Stolz und Zufriedenheit mit: über eine Wiener Arbeitergegend, die im gesellschaftlichen Diskurs immer wieder als Beispiel für misslungene Integration herhalten muss; für Yilmaz aber vor allem eines ist: ihre Heimat.

Nach ihrer Ankunft in Wien besuchte Yilmaz die Fachschule für Elektrotechnik in Wien, später arbeitete sie in der Statistik-Abteilung der Wiener Gebietskrankenkasse. In die Politik fand sie im Alter von 17 Jahren – über ihr Engagement in der Sozialistischen Jugend –, zum Fußball über ihre Brüder. Die neue Heimat der Familie Yılmaz sollte auch zum politischen Nährboden der späteren Nationalratsabgeordneten werden. Zwischen 2001 und 2013 war sie im Wiener Gemeinderat, ehe sie für die SPÖ ins Parlament einzog. Ein Wechsel, der es in sich hatte. "Ich dachte damals, für mich ändert sich nur die Bühne, nicht das Stück. Aber es ändert sich alles", sagt sie im Gespräch mit dem STANDARD.

Von der Ecke in die Kritik

2016 fiel Yılmaz als eine von vier SPÖ-Politikerinnen auf, die sich gegen die eigene Parteilinie und gegen eine Verschärfung des Asylrechts stemmten. Damals sprach sie von der "wahrscheinlich schwierigsten Entscheidung meines Lebens". Trotz Klubzwangs und Loyalität gegenüber der Parteiführung hätte sie nicht zustimmen können. Ob sie das Ausscheren aus der SPÖ-Linie heute noch gleich bewertet? "Nein. Aber damals war es nicht leicht", erzählt Yılmaz.

Wie weit ihre Loyalität gegenüber der SPÖ geht? "Ich hatte nie das Gefühl, dass ich illoyal war. Genau diese Diskussionen machen auch die Entwicklungen einer Partei aus."

Immer wieder eckt die Integrationssprecherin in der Partei an. Dabei ist Yılmaz direkt, ohne zu poltern. Vor der Wahl 2013 äußerte sie Kritik am Asylkurs der Regierung unter dem roten Kanzler Werner Faymann. Die Adressaten änderten sich, das Thema blieb. Bis heute kämpft sie für legale Fluchtrouten, spricht sich gegen separate Deutschförderklassen aus, plädiert für eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts und dafür, dass "wir hier in Österreich geborene Menschen nicht nach der zweiten, dritten, vierten Generation reihen".

Von der Tribüne auf die Bühne

Neben der SPÖ bestimmte vor allem der SK Rapid das Leben der ehemaligen Gemeinderätin. Sie saß im Ethikkomitee des Bundesligisten, ihre Heimat war aber ein Stehplatz in der Fankurve. Immer wieder sprach sie sich für Fananliegen aus. Kürzlich gab Neopräsident Alexander Wrabetz bekannt, dass Yılmaz Teil seines Präsidiums sein würde.

Aber wo benötigt man mehr Ellbogenstärke: in der Politik oder am Fußballplatz? "In der Politik. In der Kurve braucht man keine Ellbogen", sagt Yılmaz. Durchsetzungskraft brauchte die SPÖ-Politikerin auch bei ihrem Wiedereinzug in den Nationalrat 2017. Als Spitzenkandidatin im Wahlkreis Wien-Nord-West wollte ihr der damals zweitgereihte Josef Cap das Mandat streitig machen. Ein Match, das den damaligen Flügelkampf innerhalb der Wiener SPÖ widerspiegelte. Die Vertreterin aus dem multikulturellen Ottakring gegen den Cap der für eine staatliche Regelung der Migration eintrat. Am Ende entschied es Yılmaz für sich.

Ihr Nachfolger im Parlament kommt ebenfalls aus Ottakring. Von dort komme das Mandat, dort müsse es bleiben, sagt Yılmaz. Christian Oxonitsch zog erstmals 1996 in den Gemeinderat ein. Auch er sagte zu seinem Wechsel: "Der Ort ändere sich, nicht seine Arbeit." (Oona Kroisleitner, Andreas Hagenauer, 20.12.2022)