Russland und Preußen, assistiert von Österreich-Ungarn, waren verantwortlich dafür, dass Polen 123 Jahre lang (1795–1918) von der Landkarte Europas verschwand.

Deutschland und Russland sind bis heute die bestimmenden Faktoren der polnischen Geschichte geblieben. Polen war das erste Opfer der Terrorherrschaft der Nazis mit sechs Millionen Toten, davon drei Millionen seiner jüdischen Bürger. Auf sowjetischen Druck verzichtete Polen nach dem Zweiten Weltkrieg auf deutsche Reparationszahlungen. Völkerrechtlich betrachtet ist der Verzicht gültig, wirft aber trotzdem einen Schatten auf die Beziehungen zum deutschen Nachbarn.

Vor diesem historischen Hintergrund ist es ein leichtes Spiel für Jarosław Kaczyński, den Vorsitzenden der nationalkonservativen Regierungspartei PiS, je nach Bedarf gegen Deutschland und die EU, als "ausführendes Organ der Berliner Entscheidungen", zu poltern. Nicht zufällig tauchen, immer wenn die PiS in innenpolitischen Schwierigkeiten ist, maßlose Entschädigungsforderungen auf, zuletzt in der Höhe von 1,3 Billionen Euro. Das Feindbild Deutschland wirkt allerdings schwächer als vorher: Laut einer Umfrage der Zeitung Rzeczpospolita von Anfang Dezember bewerten rund 50 Prozent der Polen die aggressive Deutschlandpolitik "negativ", nur 19 Prozent "positiv".

Polens Präsident Andrzej Duda gehört dem rechtskonservativen Lager an.
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Die Hasskampagne der Regierung hängt zum Teil mit der Enttäuschung zusammen, dass die EU trotz der Schlüsselrolle Polens bei der Hilfe für die Ukraine das Verfahren wegen der Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit konsequent weiterführt und nicht bereit ist, 4,2 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufonds ohne Änderung des Gesetzes über das Oberste Gericht freizugeben.

Es geht um Garantien für die Unabhängigkeit der polnischen Richter. Die Bemühungen des Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki um Gesetzesänderungen, abgestimmt mit der EU-Kommission, brauchen die Unterstützung der Opposition.

Sein Rivale um die Nachfolge Kaczyńskis, Justizminister Zbigniew Ziobro, lehnt nämlich mit seiner EU-feindlichen kleinen Partei "Solidarisches Polen" jegliche Kompromisse mit Brüssel ab. Trotz der Zusage der Opposition wurde allerdings die parlamentarische Behandlung des Gesetzes wegen des Widerspruchs des Staatspräsidenten Andrzej Duda verschoben.

Duda hat sich von Kaczyński, der ihn 2015 "erfunden" hatte, zwar emanzipiert und sich mit Brüssel konzessionsbereit gezeigt. In diesem Fall pochte er jedoch auf seine in der Verfassung vorgesehene Rolle bei der Ernennung von Richtern. Wie dem auch sei, die persönlichen Rivalitäten und Gegensätze im rechtsnationalen Lager werden vor der Wahl im Herbst 2023 immer stärker.

Zugleich bleibt aber die Einigkeit der Polen von rechts bis links an der Seite der Ukraine. Man muss dabei bedenken, dass Polen bisher fast dreimal so viele Flüchtlinge aus der Ukraine als Deutschland, nämlich 2,7 Millionen, aufgenommen hat. Rund 1,5 Millionen kamen seit dem russischen Angriff am 24. Februar. Mehr als 400.000 von diesen neuen Flüchtlingen werden bereits beschäftigt. Trotz einer Inflation von 18 Prozent und der rapiden Steigerung der Energiepreise ist die Solidarität des Frontstaates Polen mit dem kämpfenden Nachbarland ungebrochen. (Paul Lendvai, 19.12.2022)