Eine letzte Chance, diesen Krieg doch noch zu überleben. Mit dieser Botschaft versucht die ukrainische Seite dieser Tage, russische Soldaten zur Fahnenflucht zu bewegen. Das allein ist nichts Besonderes. Deserteure gab es in Kriegen immer; Überzeugungsversuche auch. Neu ist, dass man sich das "Ticket" zum Überlaufen quasi telefonisch bestellen kann. Im Internet finden Kriegsunwillige auf hochuzhit.com, was übersetzt "ich möchte leben" heißt, Infos und Telefonnummern, über die ein bestimmter Zeitpunkt und Ort übermittelt wird, an dem einen die ukrainische Drohne abholt. Man habe dann mit der Drohne durch eine Handbewegung Kontakt aufzunehmen, müsse die Hände in die Höhe heben und anschließend der Drohne folgen. Diese weise einem in Schritttempo den Weg zur nächsten ukrainischen Stellung. Anschließend ergibt man sich offiziell. Sollte der Drohne während des Flugs der Akku ausgehen, sei eine Ersatzdrohne bereits im Anflug, so das Versprechen.

Für die Hightech-Aufgabemöglichkeit wurde in den vergangenen Wochen ein Videotutorial erstellt, nachdem Mitte November ein Video viral gegangen war, in dem sich ein Soldat eben auf diese Art und Weise ergibt und scheinbar intuitiv einer Drohne in Richtung ukrainische Armee folgt.Bei den minenverseuchten, von Artilleriegeschoßen übersäten und von Snipern kontrollierten Frontverläufen ist eine Fahnenflucht ein heikles Unterfangen. Umso wichtiger sei es, von der Drohne quasi sicheres Geleit aus der Hölle des Schlachtfelds.

Ein russischer Soldat ergab sich und folgte dem Weg der Drohne.

Eine Frage der Kampfmoral

Laut Petro Jatsenko, dem Hauptverantwortlichen für Kriegsgefangene aufseiten der Ukraine, habe es in den vergangenen Wochen via die neue Webseite bereits mehr als 4.300 Anfragen zu mehr Informationen über eine mögliche Flucht gegeben. Rund 100 Anrufe würden tagtäglich in Kiew eingehen, behauptet Jatsenko. Ob diese Zahlen der Realität entsprechen, ist schwer unabhängig zu prüfen.

Klar ist jedoch, dass es um die Kampfmoral vieler russischer Soldaten schlecht bestellt sein dürfte. Vor allem bei jenen, die gegen ihren Willen eingezogen wurden oder nach 300 Tagen einer anfangs für drei Tage geplanten "Spezialoperation" samt mangelhafter logistischer Versorgung genug vom Krieg haben. Dem dazugehörigen russischsprachigen Telegram-Kanal folgen jedenfalls bereits mehr als 40.000 Menschen. Sie stammen vor allem aus Russland und russisch besetzten Gebieten. Das lässt sich überprüfen.

Das Erklärstück zur Fahnenflucht.

Wie viele sich bisher tatsächlich ergeben haben, wollte Jatsenko aus militärtaktischen Gründen bisher nicht öffentlich sagen. Es ist auch dies freilich ein Spiel mit der Propaganda – ein schmaler Grat ist der Umgang mit Kriegsgefangenen sowieso. Das Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen von 1949 regelt unter anderem auch den Schutz Gefangener vor Erniedrigungen und öffentlichem Zurschaustellen – so gern man Überläufer auch propagandistisch ausschlachten würde. Untergebracht sind die meisten russischen Kriegsgefangenen nördlich des westukrainischen Lwiw – wo neben Überläufern freilich auch solche gefangen sind, die einfach nicht mehr entfliehen konnten.

Drohnen erleben in diesem Krieg multiple Einsatzmöglichkeiten.
Foto: REUTERS/Leah Millis

Auch die russische Seite will Soldaten freilich zur freiwilligen Aufgabe bewegen. Russische Haubitzen feuerten schon zu Beginn der Großoffensive im Frühjahr nicht nur tödliche Ladung ab, sondern auch solche Geschoße, die mit Flugblättern gefüllt waren und sich nach einer Explosion in der Luft auf dem Schlachtfeld verteilten. Darin wurde "ukrainischen Nazis" ebenfalls eine letzte Warnung erteilt. Auch mit gezielten SMS versucht die russische Armee ukrainische Soldaten zur Aufgabe zu überreden. Letzten Endes sind aber noch nicht viele Berichte über fahnenflüchtige Ukrainer an die Oberfläche gekommen – was wiederum für die höhere Moral der Truppen sprechen könnte, welche immer wieder als mitentscheidender Faktor in diesem Krieg beschrieben wird. (Fabian Sommavilla, 20.12.2022)