Das spanische Verfassungsgericht steht im Zentrum eines Streits zwischen der Regierung und Teilen der Justiz.

Foto: AFP / Thomas Coex

So etwas hat Spanien in der Geschichte seiner seit nunmehr 44 Jahren andauernden Demokratie noch nicht gesehen: Das Verfassungsgericht beschloss am Montag in den frühen Nachtstunden auf Antrag der rechten Opposition, der zweiten Kammer, dem Senat, zu untersagen, über ein Gesetz zu debattieren. Mit sechs zu fünf Stimmen nahmen die hohen Richter den Antrag auf eine einstweilige Verfügung an und stoppten so eine Gesetzesreform, die die Richtlinien bei der Wahl der Verfassungsrichter sowie anderer hoher Justizämter ändern sollte und bereits vergangene Woche von der ersten Kammer, dem Kongress, angenommen worden war.

Unter anderem sollen mit der Reform die Regeln zur Ernennung von Mitgliedern des Verfassungsgerichts sowie des Obersten Justizrats (CGPJ) – so etwas wie die Regierung der Richter – geändert werden. Künftig soll ernannt werden, wer die meisten Stimmen erhält. Bisher war eine Dreifünftelmehrheit im Parlament nötig.

Was zunächst undemokratisch aussieht, ist aus extremer Not geboren. Denn der CGPJ hätte – so will es die Verfassung – bereits vor vier Jahren neu besetzt werden müssen, zwei Posten im Verfassungsgericht vor einem halben Jahr. Dass dies nicht geschehen ist, liegt an der Blockadehaltung des konservativen Partido Popular (PP). Er weigert sich strikt, mit der Linksregierung unter dem Sozialisten Pedro Sánchez zu verhandeln und so eine Dreifünftelmehrheit zu sichern.

Befangenheitsantrag abgelehnt

Die Richter, die so weiterhin im Amt bleiben, sichern eine konservative Mehrheit sowohl im CGPJ als auch am Verfassungsgericht. Dort hätten zwei konservative Richter, einer davon der Vorsitzende des Gerichts, längst ausgetauscht werden müssen. Sie stimmten jetzt für das Debattenverbot im Senat und sichern sich so – gegen die Verfassung – einen Posten, der ihnen längst nicht mehr gehört. Die Regierungsparteien hatten einen Befangenheitsantrag gegen die beiden gestellt. Die konservative Mehrheit am Gericht lehnte dies vor der endgültigen Abstimmung ab.

Normalerweise prüft das Verfassungsgericht in Spanien – wie in anderen Demokratien auch – Gesetze, nachdem sie verabschiedet wurden. Dass ein Verfassungsgericht auf Antrag der Opposition ein Gesetzgebungsverfahren und eine Parlamentsdebatte stoppt, gab es so in Spanien noch nie. In den Radio- und TV-Debatten am Morgen nach der Entscheidung fiel immer wieder der Satz vom "Putsch in Robe statt in Uniform".

"Das ist ein schwerwiegender Vorfall. Zum ersten Mal werden die legitimen, vom spanischen Volk gewählten Vertreter daran gehindert, ihre Funktion der Vertretung des Volkswillens, der Debatte und Gesetzgebung auszuüben", erklärte Ministerpräsident Pedro Sánchez in einer Ansprache an die Nation. Der PP wolle mit der Blockade der Erneuerung der Justiz eine Macht beibehalten, die den Konservativen 2019 an den Urnen verweigert wurde. Das Vorgehen des Verfassungsgerichts sei nicht nur "einmalig in Spanien, sondern in Europa", fügte Sánchez hinzu.

Schwerwiegende Korruptionsaffären

Die Sprecherin des PP im Kongress, Cuca Gamarra, wirft der Regierung vor, das Verfassungsgericht "in Misskredit bringen" zu wollen. Das sei "extrem gefährlich" für die Demokratie und Ausdruck "des autoritären und autokratischen Abdriftens" von Sánchez. Was sie verschweigt: Der Erhalt der konservativen Mehrheit im CGPJ ist ihrer Partei wichtig, da gegen den PP mehrere schwerwiegende Korruptionsverfahren anhängig sind, die höchste Partei- und ehemalige Regierungsämter betreffen. Und das Verfassungsgericht muss in den kommenden Monaten ein Urteil zum Recht auf Abtreibung fällen.

Wie es jetzt weitergeht, ist völlig offen. Der Präsident des Senats, der Sozialist Ander Gil, kündigt eine Verfassungsbeschwerde an, da die Rechte der Abgeordneten beider Kammern und damit die der Bürger – des Souveräns in einer Demokratie – verletzt worden seien. Das Verfassungsgericht muss somit in den kommenden Tagen über sein eigenes Vorgehen richten. (Reiner Wandler aus Madrid, 20.12.2022)