Niedersachsen vor 154 Millionen Jahren: Einige erwachsene Tiere wachen über die Europasaurus-Schlüpflinge, die ihr Nest wahrscheinlich bald verlassen können, um der Herde zu folgen.

Illustration: Davide Bonadonna

Sein Verwandter Brachiosaurus ist deutlich prominenter, was wahrscheinlich vor allem dessen gewaltigen Dimensionen geschuldet ist. Der langhalsige, pflanzenfressende "Nordamerikaner" auf vier Beinen erreichte eine Höhe von rund 15 Metern. Daneben nimmt sich Europasaurus holgeri aus Niedersachsen mit einer Kopfhöhe von etwa drei Metern eher bescheiden aus. Die Spezies lebte vor 154 Millionen Jahren auf einer Insel in Norddeutschland und ist bisher nur aus einer einzigen Fundstelle im Kalksteinbruch Langenbach nahe Goslar bekannt.

Seine geringe Größe macht ihn aber auch zu etwas Besonderem, denn Europasaurus gilt als erster fossiler Dinosaurier, bei dem das evolutionsbiologische Phänomen der Inselverzwergung nachgewiesen wurde: Tiere, die auf einer kleineren Insel ohne Fressfeinde leben, nehmen in ihrer Körpergröße teilweise stark ab. Somit stellt Europasaurus möglicherweise das ausgestorbene Gegenstück zu heutigen Inseltieren wie dem Sumatra-Tiger oder Sumatra-Nashorn dar, welche im Vergleich zu ihren nächsten Verwandten auf dem Festland relativ klein sind.

Junge und Erwachsene

Nun haben Forscherinnen und Forscher der Universitäten Wien und Greifswald die Schädelreste von einigen Europasaurus-Exemplaren mit hochauflösenden Computertomographen genauer analysiert. Der kleine Sauropode ist ein idealer Kandidat für Schädeluntersuchungen bei Sauropoden, denn von kaum einer anderen Art dieser Dinosauriergruppe ist mehr Schädelmaterial aus verschiedenen Altersstadien bekannt. Die im Fachjournal "eLife" veröffentlichten Ergebnisse verraten nicht nur einiges über ihr Hörvermögen, sondern lieferten auch Hinweise auf das Sozialleben der Langhälse.

Unter den untersuchten Individuen befanden sich sehr junge und kleine ebenso wie ausgewachsene Tiere. Um mehr über die Lebensweise von Europasaurus in Erfahrung zu bringen, rekonstruierten die Forschenden erstmals die Hohlräume, die einst das Gehirn und die Innenohren dieser Wesen beherbergten.

Nestflucht vor den riesigen Artgenossen

Der Teil des Innenohres, der für das Hören verantwortlich ist, die Lagena oder Cochlea, ist bei Europasaurus relativ lang. Diese Tatsache legt nahe, dass die Tiere gut hören konnten und in ihrer Herde wahrscheinlich eine innerartliche Kommunikation stattfand. Ein anderer Teil des Innenohres, der das Gleichgewichtsorgan beherbergt, zeigte bei sehr jungen Europasauriern in Form und Umfang große Ähnlichkeiten zu jenen von ausgewachsener Tieren. "Das zeigt, dass bereits sehr junge Individuen von Europasaurus stark auf ihren Gleichgewichtssinn angewiesen waren", erklärte Sebastian Stumpf von der Universität Wien.

Einige der untersuchten Schädelreste sind dabei so winzig, dass sie vielleicht von Schlüpflingen stammen. Das würde bedeuten, dass es sich bei Europasaurus um einen Nestflüchter gehandelt hat, was auch durchaus sinnvoll gewesen wäre: Während andere Sauropoden viele Tonnen schwerer waren als ihr frisch geschlüpfter Nachwuchs und damit eine lebensgefährliche Bedrohung darstellten, könnten die Europasaurus-Schlüpflinge also direkt in der Nähe der Gruppe mitgewandert sein. (red, 21.12.2022)