Die Wasserwelt ist eine der zahlreichen Attraktionen des Wiener Gemeindebezirks Rudolfsheim-Fünfhaus. Im August wurde sie aber zum Schauplatz eines Messerangriffs.

Foto: Robert Newald

Wien – Die ermittelnden Polizisten brauchten am 25. August zugegebenermaßen keine außergewöhnliche kriminalistische Begabung, um nach einem Messerangriff auf einen 46-Jährigen einen Tatverdächtigen zu finden. Denn der 17 Jahre alte Herr H., der sich nun wegen Mordversuchs vor einem Geschworenengericht unter Vorsitz von Martina Frank verantworten muss, verletzte sich bei der Tat selbst an der Hand und blutete stark – die Beamten mussten nur der roten Spur zur nahen Wohnung einer Bekannten folgen, um ihn festzunehmen.

Zum Vorwurf der Staatsanwältin, er habe das Opfer mit vier Stichen in den Oberkörper und einem ins Gesäß töten wollen, bekennt sich der in Österreich als Sohn tschetschenischer Eltern geborene Staatenlose aber nicht schuldig. Er versucht die Laienrichterinnen und Laienrichter davon zu überzeugen, dass er in Notwehr gehandelt habe. In seinen Worten: "Ich habe schwarzgesehen, vor Panik und Angst."

Aufstehen am Nachmittag

Der von Florian Kreiner verteidigte Teenager schildert den Tattag so: Er sei zwischen 16 und 17 Uhr aufgestanden, habe die elterliche Wohnung verlassen und habe sich eine Flasche Wodka gekauft. Von der habe er aber nur einige Schlucke genommen, dann habe er sie stehen gelassen. Es folgte ein Treffen mit Freunden, bei denen er einen Joint konsumierte. Anschließend habe er sich in den Reithofer-Park in Rudolfsheim-Fünfhaus gesetzt, wo er ein Messer mit einziehbarer Klinge gefunden haben will. Das steckte er ein und schlenderte zur rund zehn Minuten entfernten Wasserwelt.

Vor einem dortigen Supermarkt standen gegen 18 Uhr das spätere Opfer und zwei weitere Freunde. H. fragte den 46-Jährigen um eine Zigarette, der hatte keine. Bis zu diesem Zeitpunkt stimmen die Schilderungen von Angeklagtem und Zeugen überein. Darüber, was danach geschehen ist, herrscht dagegen Uneinigkeit.

Unflätigkeiten in fremder Zunge

Der 17-Jährige sagt, der 46-jährige Pole habe etwas in einer fremden Sprache, die er für Serbisch hielt, gesagt. "Ich wusste, dass er nichts Nettes zu mir gesagt hat", ist H. noch immer überzeugt. Also packte er seine eigenen bescheidenen Serbischkenntnisse aus und antwortete mit "Puši kurac", einem derben Imperativ zur Fellatiovornahme. Daraufhin habe ihn der Pole ins Gesicht geschlagen, behauptet der Angeklagte – da habe er wie erwähnt "schwarzgesehen" und das gefundene Messer aus der Hosentasche genommen.

Bei der Verhängung der Untersuchungshaft hat H. noch davon gesprochen, der Schlag des anderen habe ihn wütend gemacht. "Es ist ein Unterschied, ob ich Angst habe oder wütend werde. Das sind zwei unterschiedliche Gefühle", hält ihm Vorsitzende Frank daher vor. Antwort erhält sie keine, da der im Saal anwesende Vater des Angeklagten plötzlich dazwischenredet und ermahnt wird.

Frank versucht es mit einer anderen Frage. "Warum sind Sie nicht weggelaufen, wenn Sie angeblich solche Angst hatten?" – "Ein richtiger Mann läuft nicht weg", lautet die Überzeugung des 17-Jährigen. Er habe aber noch nie Gewalt angewendet – "ich habe es immer mit Worten geklärt". Ein anderes derzeit gegen den Angeklagten laufendes Strafverfahren wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und schwerer Körperverletzung wurde auf Jänner vertagt, daher ist H. unbescholten.

Acht Zentimeter tiefe Wunde unter Achsel

Laut seiner Darstellung habe der Teenager jedenfalls das Messer gezückt und damit wild herumgefuchtelt. Er habe den Kontrahenten in den linken Arm stechen wollen, um ihn zu verletzen, gibt er zu. Das gelang definitiv nicht – der gerichtsmedizinische Sachverständige Wolfgang Denk berichtet in seinem Gutachten von drei Stichen in den linken unteren Brustbereich, einer acht Zentimeter tiefen Wunde unter der Achsel und eine Verletzung an der rechten Gesäßbacke. Die soll erfolgt sein, nachdem ihn der 46-Jährige in den Schwitzkasten genommen habe, sagt H. dazu.

Bei der Polizei schilderte der Verletzte noch einen ziemlich ähnlichen Ablauf wie der Angeklagte. Vor Gericht erzählt der Arbeiter, bei dem im Spital 1,8 Promille gemessen wurden, zur allgemeinen Überraschung eine völlig neue Version. Demnach habe H. sich nach der verweigerten Tabakware furchtbar echauffiert und unter anderem – in etwas direkteren Worten – angekündigt, mit der Mutter des Opfers den Geschlechtsakt zu vollziehen.

"Dann sprang er auf mich zu", gibt der Zeuge an. Um den Jugendlichen zu beruhigen, habe er ihn mit einem Judogriff zu Boden gebracht und sich auf ihn gesetzt, schildert der 46-Jährige weiter. Erst dann seien die Stiche gefallen, ist er überzeugt. Er habe sich an die Wand lehnen müssen, daraufhin sei der Täter weggelaufen.

Widersprüchlicher Zeuge

"Das ist heute aber ganz was anderes!", hält ihm die Vorsitzende die Widersprüche zu seiner polizeilichen Aussage vor. "Na ja, vielleicht konnte ich mich damals besser erinnern", schwächt der Zeuge zunächst noch ab. Nur, um sich kurz darauf auf Nachfrage von Verteidiger Kreiner festzulegen: Er sei sich zu "100 Prozent sicher", dass der Messerangriff erst stattfand, als H. bereits am Boden lag. Einer seiner damaligen Begleiter bestätigt, dass der 46-Jährige auf dem Angreifer gesessen sei, wann wohin gestochen wurde, habe er aber nicht mitbekommen, da alles rasend schnell gegangen sei.

Die jugendpsychiatrische Sachverständige Gabriele Wörgötter zeichnet dann ein düsteres Bild des Angeklagten. Er leide an einer Persönlichkeitsentwicklungsstörung, die bald zu einer manifesten Persönlichkeitsstörung werden könnte. Seine Empathiefähigkeit sei ebenso reduziert wie seine Frustrationstoleranz und seine Impulskontrolle. Zurechnungsfähig sei er zum Tatzeitpunkt aber gewesen, ist die Expertin überzeugt.

Die in ihrem Gutachten vor allem dem Vater die Schuld am Zustand des 17-Jährigen gibt. "Er wurde in einem familiären Umfeld sozialisiert, das vorwiegend an den Werten der tschetschenischen Herkunftsregion festhält", führt Wörgötter aus. Es seien Verbote ausgesprochen worden, es habe aber keine Kommunikation über Gefühle gegeben. "Der Gehorsam gegenüber dem Vater hat das Gefühlsleben des Angeklagten geprägt." H. habe gelernt, dass "männliche Stärke" notwendig sei, wenn er oder seine Familie beleidigt würden. Aus Sicht der Fachfrau wären eine Unterbringung des Teenagers in einer betreuten Wohngemeinschaft und intensive Psychotherapie sinnvoll.

Vorbestrafter Vater, auffälliger Bruder

Wörgötter berichtet auch, dass der Vater von 2011 bis 2017 in Strafhaft verbracht hat – nach Meinung von H. "unschuldig" – und das Jugendamt bereits mehrmals mit der Familie in Kontakt war, da auch ein jüngerer Bruder bereits öfters mit der Polizei zu tun hatte. Worauf der Vater laut zu lachen beginnt und das als "Blödsinn" abtut. Was ihm eine Ermahnung der Vorsitzenden einbringt, die ihm einen Saalausschluss androht, sollte er nicht ruhig sein. Aus den Jugendgerichtserhebungen geht hervor, dass der Vater grundsätzlich von einer gerechtfertigten Notwehrsituation überzeugt ist, es sei nur "nicht gut gewesen, dass er ein Messer verwendet hat", sagt er über seinen Sohn.

Während die Anklägerin in ihrem Schlussvortrag weiter von einem Mordversuch überzeugt ist, sieht Verteidiger Kreiner widersprüchliche Aussagen. Er geht weiter davon aus, dass sein Mandant in Panik war, das "wilde Um-sich-Stechen" müsse zu den Verletzungen geführt haben, für die H. bereit ist, die als Schmerzensgeld geforderten 5.040 Euro zu zahlen.

Die Geschworenen müssen sich zwischen mehreren Fragen entscheiden. Wählen können sie zwischen Mordversuch, absichtlich schwerer Körperverletzung und schwerer Körperverletzung, darüber hinaus müssen sie noch urteilen, ob H. in Notwehr gehandelt hat, sein Notwehrrecht überschritten hat oder irrtümlich von einer Notwehrsituation ausgegangen ist.

Einstimmiges Urteil der Geschworenen

In seinem Schlusswort bittet der Angeklagte um eine zweite Chance, die ihm die Geschworenen nach über drei Stunden Beratung gewähren. Sie sprechen ihn vom Vorwurf des Mordversuchs einstimmig frei, ebenso ohne Gegenstimme verurteilen sie den Teenager wegen absichtlicher schwerer Körperverletzung. Eine (Putativ-)Notwehrsituation können sie nicht erkennen.

Bei einem Strafrahmen bis zu fünf Jahren wird H. zu 18 Monaten unbedingter Haft verurteilt. Wegen der negativen Gefährlichkeitsprognose Wörgötters komme eine teilbedingte oder gar komplett bedingte Strafnachricht nicht infrage, begründet Vorsitzende Frank. Das Gericht habe bei der Verhandlung keine Verantwortungsübernahme durch den Angeklagten erkennen können, auch die von ihm zunächst angekündigte Entschuldigung beim Opfer habe er vergessen.

Nach kurzer Beratung mit Verteidiger Kreiner und den Eltern akzeptiert der 17-Jährige die Entscheidung, auch die Staatsanwältin gibt einen Rechtsmittelverzicht ab. Die Entscheidung ist damit rechtskräftig. "Ich werde die zweite Chance nutzen", verspricht H. ,noch ehe er von den Justizwachebeamten zurück in die Zelle gebracht wird. "Machen Sie das wirklich", gibt ihm Frank noch mit auf den Weg. (Michael Möseneder, 20.12.2022)