Das ÖFB-Team konnte sich von den bei der WM aufgeigenden Mannschaften so manches abschauen.

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Stefan Oesen bewundert Brasiliens Offensivspiel.

Foto: ÖFB/Patrick Vranovsky.

Thomas Eidler imponierte die Einbindung der Stars.

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Seit 2020 analysiert Stefan Oesen Spiele und Gegner des ÖFB-Nationalteams. Natürlich hat der Sportwissenschafter auch die WM genau verfolgt. Neben den Finalisten habe ihn Brasiliens Offensive überzeugt, sagt er. Doch Österreich könne sich auch von anderen viel abschauen, etwa von Marokko.

STANDARD: Fangen wir mit dem Finale an: Warum hat Argentinien Frankreich so hergespielt?

Oesen: Argentinien war mit Abstand die beste Mannschaft, was offensive Balleroberungen betrifft, und hatte gleichzeitig am wenigsten kritische Ballverluste. Im Finale waren sie extrem gut auf die Querpässe der Franzosen im letzten Drittel vorbereitet. Frankreich musste durch die hohe Positionierung der Außenverteidiger oft die letzte Linie mit zwei Spielern verteidigen. Dann hast du Messi als Ankerspieler und Di Maria, der extrem schnell umschalten kann und diese Räume hinter den Außenverteidigern perfekt genutzt hat. Die Franzosen waren da eine Zeitlang überfordert, das perfekte Gegenmittel zu finden.

STANDARD: Im ersten Moment klingt das mit den offensiven Balleroberungen bemerkenswert, da sich Messi ja doch recht selektiv bewegt.

Oesen: Bälle werden ja selten von der vordersten Spitze erobert. Die Spitze lenkt oder macht den nächsten Pass vorhersehbar. Im Finale hat Messi sehr gut mitgearbeitet, entscheidend war aber die Kompaktheit und Geschlossenheit der Restmannschaft. Will man gut umschalten, braucht man einen Ankerspieler, der den Konter in Bewegung hält und das Tempo hoch hält. Da ist Messi perfekt, da haben sie für ihn die ideale Rolle gefunden.

STANDARD: Was ist bei der WM aufgefallen?

Oesen: Sehr viele Dinge, die im Klubfußball gut funktioniert haben, sind von den Nationalmannschaften übernommen worden. Die große Entwicklung habe ich nicht gesehen, dafür war vor dem Turnier auch keine Zeit. Sehr spannend fand ich den Aufbau von Brasilien und wie sie versucht haben, durch die Positionierung der Außenverteidiger ihre Flügel ins Spiel zu bringen. Das haben sie auch gegen Kroatien extrem gut gemacht, da ist es an Kleinigkeiten gescheitert. Man hat gesehen, dass alle Teams in der Analyse auf Topniveau arbeiten und auf die gegnerischen Formationen gut reagieren können.

STANDARD: Von welchen Mannschaften kann sich das ÖFB-Nationalteam unter Ralf Rangnick etwas abschauen?

Oesen: Wenn man sich von den Finalisten nichts abschauen kann, macht man sowieso etwas falsch. Das Umschaltverhalten in die Offensive von Argentinien würde jede Mannschaft gerne so ähnlich hinbekommen. Außerdem die Geschlossenheit und Leidenschaft in Marokkos Verteidigen – das haben wir auch in unserem Spiel gegen Italien schon beobachtet, dass da ein Spirit drin ist. Als Drittes die Variabilität in Brasiliens Offensive: Sie haben dem Gegner nie Luft gelassen, im Spiel gegen Südkorea haben sie das perfekt exekutiert. Es war großartig, wie sie permanent irgendwo Instabilität im gegnerischen Verbund ausgelöst haben. Es ist ja nicht so, dass Südkorea gar nicht verteidigen kann, aber durch so ein gegnerüberwindendes Dribbling löst du etwas aus und erarbeitest dir so Lücken.

STANDARD: Gibt es ein Thema, das Medien und Fußballfans oft falsch interpretiert haben?

Oesen: Bis zum Finale gab es halb so viele Tore aus Standardsituationen wie bei der WM 2018. Damals waren es 40 Prozent, jetzt waren es vor dem Finale etwa 20 Prozent. 2018 gab es 29 Elfmeterpfiffe, wovon 22 oder 23 verwertet wurden. Irgendwo habe ich gelesen, dass es die kurze Vorbereitungszeit auf die WM nicht möglich gemacht hätte, etwas einzustudieren oder die Automatismen so hinzubekommen. Vergessen wird, dass vor vier Jahren der VAR eingeführt wurde und man sich mittlerweile daran gewöhnt hat. Das Verhalten bei Standardsituationen hat sich gewandelt, weil man weiß, dass jedes Vergehen durch eine Kamera beobachtet wird.

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Thomas Eidler ist seit 2020 Gesamtleiter der ÖFB-Trainerakademie. Bei den WM-Teamchefs beeindruckte ihn der "intensive Austausch mit dem Trainerteam, Vertrauenspersonen und Führungsspielern".

STANDARD: Haben Sie bei der WM große Trends beobachtet?

Eidler: Große Trends, egal in was für eine Richtung, werden selten bis nie bei WM und EM geboren. In Zukunft viel weniger als in der Vergangenheit. Das passiert auf Klubebene und wird dann übernommen. Die Zeit für die Vorbereitung auf ein Turnier ist unglaublich begrenzt. Man muss zwischen Leistungsentwicklung und Leistungsentfaltung unterscheiden, auf Nationalteam-Ebene geht es überwiegend um Leistungsentfaltung. Im Fußball gibt es aus meiner Sicht zwei Arten von Trends. Kurzfristigen Erscheinungen, die schnell wieder weg sind, messen wir in der Trainerausbildung nicht viel Bedeutung zu. Andererseits gibt es Trends, an denen man eine langfristige Entwicklung ablesen kann.

STANDARD: Was haben Sie für die Trainerausbildung mitgenommen?

Eidler: Es gab sehr viele Momente. Wir haben jedem der Trainer im Pro-Diplom-Kurs einen Trainer aus der WM zugeteilt, den er während der WM beobachten musste: Wie verhält er sich, wie geht er mit Krisen um, wie verhält er sich an der Linie, wie ist sein Werdegang? Für uns steht der Trainer im Mittelpunkt. Bemerkenswert waren zum Beispiel die Social-Media-Auftritte von Spaniens Trainer Luis Enrique. Nach der WM hat er gesagt, dass er mit seinen Kurzvideos Druck von der jungen Mannschaft nehmen wollte.

STANDARD: Gibt es eine Best Practice, wie Trainer mit Themen abseits des Sports umgehen sollen, zum Beispiel Hansi Flick mit dem Thema One-Love-Armbinde?

Eidler: Best Practice nicht, weil es für uns auch kein Idealbild von einem Trainer gibt. Wir haben eine sehr kompetenzorientierte und individualisierte Ausbildung. Es gibt vier Hauptkompetenzen: Fachkompetenz, also Taktik, Sportwissenschaften, Biologie et cetera. Dazu die Sozialkompetenz, also Leadership. Als Drittes die Methodenkompetenz: Wie bringe ich diese Inhalte an die Menschen? Und zuletzt die Selbstkompetenz: Wie gehe ich selbst mit solchen Situationen um? Dieses Kompetenzmodell deckt alles ab, was im Berufsbild des Trainers vorkommt. Wir sind weit davon entfernt, dass es nur um die Taktik und das, was am Spielfeld ist, geht.

STANDARD: Hat sich etwas an der Menschenführung der Trainer geändert?

Eidler: Die Hierarchie ist nochmals ein Stück flacher geworden. Die Trainer haben einen unglaublich intensiven Austausch mit dem Trainerteam, Vertrauenspersonen und Führungsspielern gepflegt. Auch die kulturbezogene Kommunikation war auffällig, wenn ich an das Tanzen von Tite mit den Spielern denke. Über 90 Minuten wild gestikulierende Trainer habe ich nicht mehr gesehen. Es war sehr analytisch und fachlich.

STANDARD: Von außen bekommt man kaum mit, wer außer dem Cheftrainer noch auf der Bank sitzt. Was tut sich da?

Eidler: Ich interpretiere da jetzt etwas hinein, aber Vertrauen war wahrscheinlich wichtig. Die Assistenztrainer waren sehr ähnliche Typen wie der jeweilige Cheftrainer, das Durchschnittsalter war sehr hoch.

STANDARD: Was ist Ihnen taktisch aufgefallen?

Eidler: Die Trainer waren sehr klar und konsequent, da waren nicht viele taktische Neuheiten dabei. Mir ist das großartige Einbinden besonderer Spieler, die den Unterschied machen können, stark aufgefallen. Diese Spieler in ihre beste Position bringen zu wollen, war offensichtlich.

STANDARD: Was hat Sie beeindruckt?

Eidler: Die dynamische Technik, Richtungsänderungen, Stop and Go, Argentiniens Konter im Finale. Die langen Bälle in den Rücken der Abwehr von Belgien, Marokko und Co, die sehr schwierig zu antizipieren sind. Die Athletik, wenn ich an das Kopfballtor von Marokko oder die große Anzahl an sehr schnellen Spielern denke. Aber auch das schnelle Abbremsen und, was sehr selten trainiert wird, die Leidenschaft und Begeisterung einiger Teams. (Martin Schauhuber, 21.12.2022)