Erst gab es nur eine kryptische E-Mail der scheidenden Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, die die Abgeordneten zu einer "sehr besonderen" Sitzung einlud. Dann meldete eine Nachrichtenseite den Scoop. Die Sonne war an dem kalten Wintermorgen gerade aufgegangen, als Joe Biden den politischen Kracher des ausgehenden Jahres dann offiziell bestätigte. "Ich hoffe, du hast einen guten Flug, Wolodymyr", twitterte der US-Präsident: "Ich freue mich sehr, dich hier zu sehen. Es gibt viel zu besprechen." Wenige Stunden später soll er den Präsidenten der Ukraine in Washington begrüßen. Nach dem Treffen der beiden um 20 Uhr ist eine gemeinsame Pressekonferenz für 22.30 geplant sowie ein Auftritt vor dem Kongress um 1.30 (alle Zeiten MEZ).

VIDEO: Das Patriot-Raketenabwehrsystem, kurz erklärt.
DER STANDARD

Die hochgeheime erste Auslandsreise Selenskyjs seit Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar hat das Zeug zum historischen Ereignis. In seiner Videoansprache am Dienstag hatte der Präsident erklärt, diese Woche sei für sein Land besonders wichtig, "um diesen Winter und das nächste Jahr zu überstehen" und "die nötige Unterstützung zu bekommen, damit die ukrainische Flagge endlich auf allen Abschnitten unserer Grenze weht".

In der extremst schwer umkämpften ostukrainischen Stadt Bachmut, in die russische Truppen am Mittwoch teils vorgestoßen sein sollen, hatte Selenskyj noch am Dienstag unter dem Donner von Artilleriegeschoßen die mutigsten seiner Kämpfer getroffen und geehrt. Die Bitte, wonach er eine von den Kämpfern unterschriebene ukrainische Flagge ihren Militärkollegen in den USA übergeben solle, erwiderte der Präsident mit einem leichten Grinser und der Aussage: "Für die Waffen." Gemeint könnten auch die Flugabwehrsysteme Patriot sein, die sich Kiew seit Kriegsbeginn so sehnlich wünscht.

Just in jenem Moment steht in den USA, dem wichtigsten westlichen Unterstützer der Ukraine, eine politische Machtverschiebung an: Ab dem 3. Jänner werden die Republikaner, die in Teilen weitere Hilfen für das osteuropäische Land ablehnen, die Mehrheit im Repräsentantenhaus stellen.

Doppeltes Ziel

So dürfte der ebenso überraschende wie dramatische Besuch am 301. Kriegstag ein doppeltes Ziel verfolgen: Einerseits wird Präsident Joe Biden bei einer Begegnung im Weißen Haus wohl die Entschlossenheit seiner Regierung bekräftigen, die Ukraine "solange es nötig ist" zu unterstützen. Als sichtbares Zeichen stellt er weitere 1,8 Milliarden Dollar Militärhilfen bereit, zu denen auch das Luftverteidigungssystem Patriot gehört.

Am späten Mittwochnachmittag (Nacht zum Donnerstag MEZ) absolviert Wolodymyr Selenskyj seinen Besuch bei Joe Biden und im US-Kongress.
Fotos: EPA, imago

Andererseits dürfte der geplante Auftritt Selenskyjs vor beiden Häusern des Kongresses den politischen Druck für deren Zustimmung zu weiteren Hilfen enorm erhöhen. Biden will sich vom Parlament im Rahmen eines gewaltigen Ausgabenpakets für das Jahr 2023 rund 45 Milliarden Dollar für die Ukraine bewilligen lassen.

Vertreter des Trump-Flügels der Republikaner lehnen das ab. Man sei absolut zuversichtlich, dass die Mehrheit stehe, heißt es gleichwohl im Weißen Haus. Der geplante Auftritt Selenskyjs vor beiden Häusern des Kongresses werde der Bereitschaft zur Unterstützung der Ukraine in den USA und bei den Alliierten "einen wichtigen Impuls" versetzen.

Spekulationen, der US-Präsident könne hinter verschlossenen Türen seinen Gast zu Konzessionen und einer größeren Kompromissbereitschaft drängen, werden in Washington zurückgewiesen. Tatsächlich hatte Biden immer betont, dass allein die Ukraine über mögliche diplomatische Zugeständnisse entscheiden müsse und nicht über den Kopf des Landes hinweg verhandelt werde.

Es gehe um eine "Botschaft der Solidarität und der Unterstützung", sagte ein hochrangiger Regierungsbeamter. Russland habe mit seinen derzeitigen brutalen Bombardements der zivilen Infrastruktur der Ukraine keinerlei Hinweis auf Gesprächsbereitschaft gegeben. Es gelte weiter, dass der Westen "nichts ohne die Ukraine über die Ukraine" bespreche. Zugleich machte der Top-Berater jedoch auch klar, dass sich Biden weiter gegen ein direktes Engagement seines Landes in dem Krieg stelle: "Die USA führen keinen Krieg mit Russland."

Ukraine als innenpolitisches Thema der USA

Nicht nur wegen des aktuellen Krieges spielt die Ukraine in der innenpolitischen Auseinandersetzung der USA eine herausgehobene Rolle. Bereits kurz nach seiner Wahl 2019 hatte Selenskyj nach Washington kommen wollen. Der damalige Präsident Donald Trump zögerte die Einladung aber ebenso wie die Auszahlung einer vom Kongress beschlossenen Militärhilfe in Höhe von 400 Millionen Dollar hinaus. Bei einem Telefonat im Juli 2019 forderte er dann von Selenskyj belastendes Material gegen Joe Biden und dessen Sohn Hunter und versuchte den Ukrainer zu erpressen. Der Vorgang war Anlass des ersten Impeachment-Verfahrens gegen Trump.

Im September 2021 wurde Selenskyj dann endlich im Weißen Haus empfangen – von Trumps Nachfolger Biden. Damals forderte der Gast US-Sanktionen gegen die Gaspipeline Nord Stream 2, die Biden aber auch aus Rücksicht auf Deutschland versagte.

In den vergangenen Monaten seit Ausbruch des Krieges haben die beiden Staatschefs mehrfach telefoniert. Biden betrachtet es als großen politischen Erfolg, den Westen in der Unterstützung der Ukraine und dem mit Sanktionen erhärteten Widerstand gegen die Aggression des russischen Machthabers Wladimir Putin geeint zu haben.

Die persönliche Begegnung von Biden und Selenskyj am Mittwoch wird von hohen Sicherheitsvorkehrungen begleitet. (Karl Doemens aus Washington, 21.12.2022)