Perfektion ist, wenn von tausend Handgriffen jeder sitzt und das, was am Ende herauskommt, trotzdem nicht einstudiert wirkt. Die junge Frau baumelt jetzt schon über eine Viertelstunde lang von der Decke. Obwohl sie weder Arme noch Beine noch ihren Kopf bewegen kann, strahlt ihr Gesichtsausdruck pure Glückseligkeit aus. Um sie herum sitzen und stehen rund drei Dutzend Leute, die das Schauspiel nicht minder zu genießen scheinen. Ein paar von ihnen sind hörbar Experten. Jedes Mal, wenn die Zeremonienmeisterin, die der Frau die Fesseln legt, einen ihrer Kunstgriffe aus dem Hut zieht, brandet an manchen Ecken lauter Applaus auf.

Die Performance dauert gut eine halbe Stunde. An diesem Ort entspricht das, wie einem im Nachhinein erklärt wird, der Dauer einer durchschnittlichen Shibari-Session. Shibari heißt die Fesselkunst, die ihre Wurzeln in Japan zur Zeit der Samurai hat. Die dem andernorts auch als Kinbaku bekannten Konzept zugrunde liegende Idee: mit Seilen einen Menschen teilweise oder ganz bewegungsunfähig zu machen, um in ihm oder ihr Gefühle und Emotionen auszulösen, auf die die fesselnde Person dann reagiert.

Der BDSM-Club Iznanka ist ein Kellerlokal auf halber Höhe der Hrets’ka Street in der Innenstadt Odessas.
Olena Kontsevych

"Unter unseren Stammgästen gibt es viele Shibari-Fans. Vor allem unter den jungen", sagt Wolodymyr Furman. "Ich weiß nicht, warum. Das war schon immer so." Sein Ding sei es nicht. Ebenso wenig wie die anderen, mannigfaltigen Spielformen der Art von Liebe, die weltweit im Ruf des Extremen stehen; aber um die Geschäfte des Betriebs zu führen, dem er seit vier Monaten vorsteht, sei das auch nicht nötig.

Seit Anfang Juli sorgt der 33-Jährige dafür, dass im Iznanka (deutsch: "Von innen nach außen"), einem Kellerlokal auf halber Höhe der Hrets’ka Street in der Innenstadt Odessas, die Dinge ihren geordneten Lauf nehmen. Ein Job, den sich der gelernte Elektrotechniker nicht ausgesucht hat: "Die Bar gehört der Frau meines Bruders, die beiden sind sofort nach Spanien geflüchtet, als hier die ersten Raketen einschlugen." Von Februar bis Sommer blieb das Iznanka geschlossen, auf dessen rund 120 Quadratmetern sich Gerüche mischen, die von billigem Parfum über harten Schnaps bis zu parfümiertem Gleitgel reichen. "Wir wollten zuerst gar nicht mehr aufmachen. Erst als das Drängen der Stammgäste immer heftiger wurde, haben wir uns dazu entschlossen. Im Gegensatz zu früher halt nur dreimal die Woche, aber immerhin."

Leopold Ritter von Sacher-Masoch

Seitdem finden sich im Iznanka jeden Freitag, Samstag und Sonntag ab fünf Uhr nachmittags wieder regelmäßig die Mitglieder jener verschworenen Gemeinschaft ein, die in der wichtigsten Hafenstadt der Ukraine sonst heimatlos wären. Das Iznanka ist die einzige BDSM-Bar von Odessa. Das Akronym BDSM setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der englischen Bezeichnungen "Bondage and Discipline, Dominance and Submission, Sadism and Sadomasochism" zusammen. Im deutschsprachigen Raum werden diese Formen der körperlichen Liebe landläufig unter den Begriffen Masochismus beziehungsweise Sadomasochismus (SM) zusammengefasst. Wortschöpfungen, die allen voran auf das Werk des 1836 in Lwiw geborenen Schriftstellers Leopold Ritter von Sacher-Masoch zurückgehen, der in Werken wie dem heute als Klassiker geltenden "Venus im Pelz" seinem Schmerz- und Unterwerfungsverlangen Ausdruck verlieh.

Jahrhundertelang konnten die Praktizierenden diese Neigungen nämlich nur im Verborgenen ausleben. Erst ab den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts etablierten sich, ausgehend von den USA, weltweit nach und nach Orte, an denen sich Menschen mit anderen trafen, die ihre Sexualpräferenzen teilten. In der russisch dominierten Sowjetunion, von der die Ukraine rund 70 Jahre lang einen integralen Teil bildete, galt jegliche Spielform von BDSM – ebenso wie die gleichgeschlechtliche Liebe – als ultimativer Ausdruck westlicher Verkommenheit und Dekadenz. Selbst in Odessa, dessen Ruf als Sündenbabel gestern wie heute literarisch und künstlerisch gepflegt wird, dauerte es bis lange nach der Unabhängigkeit des Landes, bis die Jünger Sacher-Masochs keine Angst mehr davor hatten, ihre Vorlieben öffentlich zur Schau zu stellen. Das Iznanka eröffnete erst vor vier Jahren seine Pforten. Laut Interimsgeschäftsführer Furman stand sein schmiedeeisernes Eingangstor seitdem jeden Tag offen: "Selbst wochentags ging es oft bis vier, fünf Uhr morgens."

Viele Soldaten vom Fronturlaub

Bis zu dem Tag, an dem alles anders wurde. "Ganz ehrlich: Manchmal kann ich immer noch nicht glauben, was passiert ist. Aber umso froher bin ich, dass ich endlich wieder arbeiten kann", sagt eine, die fast von Anfang an dabei ist. Zuerst als Stammgast und heute als Mitarbeiterin. Marina ist Ende 20 und sorgt im Iznanka mit ihren von Technoklängen untermalten und in Lack-und-Leder-Outfit ausgeführten Solo- und Schoßtänzen für die Animation der männlichen wie der weiblichen Klientel. Sie oder einen der anderen Performer anzufassen gilt als streng verboten. Wer gegen dieses ungeschriebene Gesetz verstößt, bekommt es binnen Sekunden mit der Handvoll stämmiger Security-Männer zu tun, die über das Treiben in der Bar wachen.

Laut Marina, die bis zu ihrem Engagement im Iznanka als Englisch-Lehrerin arbeitete, hat sich seit Beginn der russischen Invasion vor allem eines geändert: "Wir sind hier eine große BDSM-Familie, in der fast jeder jeden kennt. Aber jetzt kommen viele Soldaten vom Fronturlaub, die das, was sie erlebt haben, für ein paar Stunden vergessen wollen. Und dabei helfen wir ihnen. Das sind unsere Helden, ohne die Odessa längst gefallen wäre."

Marina ist Ende 20, sie war zunächst als Stammgast im Iznanka, heute ist sie Mitarbeiterin.
Olena Kontsevych

Auch wenn die BDSM-Szene der Stadt im Laufe der Jahre überschaubar geblieben sei – laut Marina umfasst sie zwischen 130 und 200 Leute –, nehme das Lokal als ihr Treffpunkt eine kaum zu unterschätzende Rolle ein: "Es ist der einzige Ort, an dem jedem, der bei der Tür hereinkommt, vollkommen vorurteilslos begegnet wird. Und wenn sich herausstellt, dass BDSM nicht das seine oder ihre ist: kein Problem." Auch laut vielen Stammgästen habe sich seit dem 24. Februar mehr im Iznanka geändert als nur die Öffnungszeiten. Die letzten von ihnen werden heute spätestens um halb elf hinauskomplimentiert. Das ist eine halbe Stunde bevor die nächtliche Ausgangssperre anbricht und jeder, der danach auf der Straße erwischt wird, empfindliche Bekanntschaft mit den bisweilen rauen Methoden der Territorial Defence Force (TDF) macht.

Intensiver und offener

"Wir sind definitiv näher zusammengerückt", sagt Igor. Der 30-jährige Möbeldesigner lässt, seitdem er vor zwei Jahren in Sachen BDSM auf den Geschmack gekommen ist, nach eigener Aussage kein Wochenende im Iznanka aus: "Vor dem Krieg betrug der Anteil an Touristen hier an die 30 Prozent. Heute sind wir praktisch unter uns. Und weil wir in der Situation sind, in der wir sind, hat das Lokal eine ganz neue Bedeutung für uns bekommen. Auch wenn wir nicht kämpfen, sind wir dem Wahnsinn täglich ausgesetzt. Den Raketen, den Drohnen. In den Stunden, die wir in der Bar verbringen, haben wir alle weniger Angst. Es ist quasi eine einzige große Psychotherapie-Sitzung."

Menschen seien offener geworden, "weil sie das Gefühl haben, dass jeder Moment ihr letzter sein könnte", glaubt der 30-jährige Möbeldesigner Igor.
Olena Kontsevych

Es gebe aber auch noch eine andere, verstecktere Entwicklung, die der Krieg gezeitigt habe: "Es ist alles viel intensiver geworden. Selbst die Leute, die sich bisher nicht so haben gehen lassen, sind jetzt offener für sexuelle Experimente. Weil sie das Gefühl haben, dass jeder Moment ihr letzter sein könnte. Sie probieren neue Dinge aus. Peitschen, Handschellen, Fesseln, alles. Und das hilft wiederum der Community, die Vorurteile zu widerlegen, die viele Menschen gegen BDSM haben. Wir sind keine Perversen. Wir wollen einfach nur Spaß haben. Heute mehr als jemals zuvor." (Klaus Stimeder aus Odessa, 26.12.2022)