Die Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler und der Kulturmanager Fabian Burstein schreiben in ihren Gastkommentaren zur derzeitigen Situation der Theater. Ihre Positionen sind äußerst unterschiedlich.
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Mehr Unaufgeregtheit und Mut
Von Veronica Kaup-Hasler
Ein Unwort des Jahres 2022: "Besucherschwund". Nach beinahe drei herausfordernden, von steter Unsicherheit dominierten Jahren werden wir heuer zum ersten Mal seit Pandemiebeginn ohne einschneidende Einschränkungen Weihnachten und Silvester feiern können. Wir leben und arbeiten aber nach wie vor in einer veränderten, durch Krisen verunsichernden Zeit. Viele Menschen haben sich innerlich noch nicht vom Ausnahmezustand verabschiedet. Sie betreten den öffentlichen Raum und die Kulturinstitutionen immer noch mit einer Mischung aus Vorsicht und Misstrauen.
Angesichts dieser Realität braucht es Unaufgeregtheit, Kreativität und Mut zum Risiko – vonseiten der Veranstalter ebenso wie vonseiten des Publikums und auch der Kritik: Die derzeit tretmühlenartig wiederholte "Analyse", früher sei – bevorzugt an den heimischen Sprechtheatern – alles besser gewesen und das Problem mit dem fehlenden Publikum sei hausgemacht: Sie greift zu kurz. Zum einen berücksichtigt sie zu wenig, dass der gesamte Kunst- und Kulturbereich, ja im Grunde das gesamte gesellschaftliche Gefüge an einem fragilen Zustand der Rekonvaleszenz laboriert. Zum anderen übersieht sie geflissentlich, dass international sämtliche Unterhaltungs- und Kunstsparten nur langsam an die Zahlen von vor der Pandemie anzuschließen vermögen.
Zunehmend komplexe Realität
Könnte man diesen Prozess – wie Kritikerinnen und Kritiker nahelegen – mit mehr Populismus und weniger Experimenten beschleunigen? Als Verfechterin eines pluralistischen Kulturangebots widerspreche ich da vehement. Gerade nach einer langen Periode des Zu-Hause-Einigelns, die Covid der Gesellschaft aufgezwungen hat, ist Kultur das Mittel, um Räume des Miteinanders und des Gesprächs wieder zu öffnen. Neben Bewährtem braucht es dafür gerade das Theater als Testlabor für neue, individuelle Kommunikationen mit einer zunehmend komplexen Realität, einer diversen Gesellschaft und der jungen Generation.
Echte Renner
Dass das vielfältige Angebot dieser Stadt wieder mit steigenden Besucherzahlen belohnt wird, davon konnte man sich heuer nicht nur bei der Viennale oder bei Wien Modern überzeugen. Auch in den Theatern füllen sich die Publikumsreihen wieder, und das nicht nur bei Publikumsmagneten wie Ernst Jandls auf Wochen ausverkauften "humanistää" im Volkstheater. Im Wiener Schauspielhaus lief etwa gerade mit großem Erfolg "Faarm Animaal", die weise, komische Umdeutung des George-Orwell-Klassikers durch den scheidenden Intendanten Tomas Schweigen. Auch eine so herausfordernde, sich einem schwierigen Thema behutsam annehmende Produktion wie "Heimweh" des Performancekollektivs Darum stieß auf großes Interesse – und das bei einer Spieldauer von über vier Stunden. In der Josefstadt jubelt man über Renner wie "Leopoldstadt" und die "Dreigroschenoper".
"Besucherschwund"? Ja, nicht überall läuft es so exzellent, aber die ersten vertrauensbildenden Schritte zwischen den Theatern und ihrem Publikum sind sichtbar getan. Alle, die diesen herausfordernden Weg beschreiten, sollte man anspornen und unterstützen. Ich bin zuversichtlich, dass es verstärkt positiv in das neue Jahr geht. (Veronica Kaup-Hasler, 22.12.2022)
Aussitzen ist keine Option
Von Fabian Burstein
Die Situation, in der sich die großen Theater derzeit befinden, ist keine Schande und per se auch kein Versagen. Krisen sind nun mal Brenngläser der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie lassen sanften Veränderungsdruck zu einer handfesten Disruption mutieren.
Die Theater wurden von den Auswirkungen der Krisenjahre offensichtlich überrollt. Corona, Krieg und Teuerung haben abrupt Zustände herbeigeführt, die sich längst abgezeichnet, für die sich die Protagonisten aber noch eine komfortable Schonfrist erhofft hatten. An dieser Stelle könnte die Theaterkrise zum positiven Wendepunkt, zum Paradebeispiel für Kultur als Triebfeder gesellschaftlichen Wandels werden. Es bleibt beim Konjunktiv.
Hier beginnt das eigentliche Versagen von Kulturmanagement und Politik, das in seiner Renitenz doch ein bisschen beschämend ist. Publikumsschwund und Relevanzverlust werden als schicksalhafte Konsequenz "äußerer Umstände" eingeordnet – so, als ob vorher alles gut gewesen wäre. Die Parole lautet: aussitzen. Theater hat Long Covid, sagen die Verantwortlichen, und legitimieren damit eine Verweigerungshaltung, die den Kulturbetrieb als Sinnbild für Fortschritt und Aufklärung ad absurdum führt. Eine ehrliche Analyse könnte einiges zutage fördern.
Erstens, dass ein junges, aufgeklärtes Publikum vom Repräsentationsgehabe der klassischen Theatertanker im besten Fall gelangweilt und im schlimmsten Fall angewidert ist. Eine Generation, die aus eigener Kraft MeToo losgetreten hat, lässt sich nicht von überholten Machtstrukturen und Geniekult beeindrucken.
Opfer planloser Kulturpolitik
Zweitens, dass das Theater in einer schweren ästhetischen Krise steckt, weil die Vielzahl an neuen Kulturkanälen dem exaltierten Treiben vor gezimmerten Kulissen ein bizarres Antlitz gibt. Theater ist ein bisschen zum Hans-Moser-Film der Generation Z geworden – kann man sich gerne mal als Kuriosum zu Gemüte führen, hat aber nichts mit der eigenen Lebensrealität zu tun.
Drittens, dass es der Theaterbetrieb verabsäumt hat, eine breitenwirksame Gegenwartsdramatik zu fördern und in den künstlerischen Ausbildungsstätten zu institutionalisieren. Eine Kulturgattung, die in ihren Leuchttürmen fortwährend die Anbetung der immer gleichen Urväter fordert, verfolgt eher die Prinzipien einer Sekte als jene eines lebendigen Diskursortes.
Viertens, dass sich das Theater zu Recht auch als Opfer einer planlosen Kulturpolitik fühlen darf, die sich weigert, klare strategische Leitplanken zu definieren. Auf diese Weise verkommen öffentlich finanzierte Häuser zu "private kingdoms" – Ideen wie zum Beispiel eine Intendantenkonferenz oder die regelmäßige Einbindung von Gremien wie Aufsichtsrat und Kulturausschuss, in denen es um Abstimmung, inhaltliche Verzahnung und diversifizierte Zielgruppenansprache geht, gelten als Sakrileg, die sich die Gutsherren des Theaterbetriebs verbitten.
Vier Punkte, eine Conclusio: Die Krise lässt sich abwenden. Es muss sich nur etwas in den Theatern bewegen, bevor sich die Legislative bewegt und den Bedeutungsverlust mit einem dramatischen Finanzierungsverlust abstraft. (Fabian Burstein, 22.12.2022)