Auto fahren? Nur wenn’s unbedingt nötig ist. Eislaufen? Um Himmels willen! Rugby spielen? Lieber nicht. Alkohol auf der Weihnachtsparty? "Trinken Sie verantwortungsvoll", dröhnt es durch die Londoner U-Bahn, "und bitte stürzen Sie nicht auf der Rolltreppe".

Am Mittwoch konnten sich die Britinnen und Briten kaum retten vor guten Ratschlägen von Medien und Regierungsstellen. Grund war ein eintägiger Streik von Ambulanzfahrern und Krankenhaus-Reinigungspersonal – vorläufiger Höhepunkt einer Serie von Arbeitskämpfen, die das Land auch über Weihnachten in Atem halten wird. Lag im November der Schwerpunkt noch auf der Eisenbahn, richtet sich nun der Fokus auf das ohnehin marode Gesundheitssystem NHS. Wie schlimm es um die Erstversorgung bestellt ist, verdeutlichte die drastische Warnung einer Leitstelle: "Rufen Sie nur dann die Notfallnummer, wenn Sie glauben, Sie müssten sterben."

Der eintägige Streik von Ambulanzfahrern und Krankenhaus-Reinigungspersonal stellte den vorläufigen Höhepunkt einer Serie von Arbeitskämpfen im Vereinigten Königreich dar.
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Während sich der einflussreiche Boss der Eisenbahngewerkschaft RMT, Mick Lynch, zuletzt zu Geheimgesprächen mit den privaten Zugbetreibern traf, wirken die Fronten beim NHS komplett verhärtet. "Sollte es Tote geben, hat dies die Regierung zu verantworten", gab Christina McAnea von Unison zu Protokoll. Gesundheitsminister Steve Barclay goss Benzin in die Flammen, indem er den Gewerkschaften die Schuld gab: Diese hätten mit ihren Streiks eine "bewusste Entscheidung getroffen, den Patienten Schaden zuzufügen".

Enge Parameter

Wie in anderen Branchen auch kämpfen Krankenpersonal, Putzleute und Sanitäter für bessere Arbeitsbedingungen ebenso wie für höheren Lohn. In der Privatwirtschaft gab es zuletzt Abschlüsse von durchschnittlich 6,6 Prozent, der öffentliche Dienst bleibt weit dahinter zurück. Die konservative Regierung von Premier Rishi Sunak hat im NHS 4,75 Prozent mehr Lohn und Gehalt angeboten und stützt sich dabei auf die Einschätzung eines unabhängigen Gremiums. Allerdings müssen die Experten bei ihrer Empfehlung die engen Parameter des laufenden Haushalts sowie das erklärte Ziel der Regierung, das Lohnniveau unter der Teuerungsrate zu halten, berücksichtigen. Die Inflation lag zuletzt nach Angaben der Zentralbank bei 10,7 Prozent.

Während im Ambulanz-Streit von Arbeitnehmerseite noch keine konkrete Zahl auf dem Tisch liegt, hat die Pflege-Gewerkschaft RCN nach jahrelangen Nullrunden Inflationsausgleich plus fünf Prozent mehr gefordert. Dies hat Minister Barclay brüsk abgelehnt und verweigert jedes weitere Gespräch. In Schottland hatte die dort zuständige Regionalregierung immerhin 7,5 Prozent mehr Geld geboten, was die Gewerkschaftsmitglieder am Mittwoch mehrheitlich ablehnten.

Eineinhalb Stunden auf die Rettung warten

Für viele der rund 300.000 Mitglieder im Berufsverband der Pflegekräfte (RCN) ist dies der erste Arbeitskampf ihres Berufslebens – Zeichen der Verzweiflung über die Zustände im NHS, wo zuletzt sechs Millionen Patienten auf eine dringend nötige Untersuchung wie eine Magenspiegelung oder kleine Operationen wie den Ersatz arthritischer Knie warteten. Drastisch sieht auch die Statistik bei Wartezeiten für einen Rettungswagen aus. Im Durchschnitt muss sich 60 Minuten lang gedulden, wer einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten hat; in ländlichen Regionen kann es auch mal eineinhalb Stunden dauern, bis die Erstversorgung eintrifft.

Die konservative Regierung von Premier Rishi Sunak hat im NHS lediglich 4,75 Prozent mehr Lohn und Gehalt angeboten.
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Sanitäter beklagen zudem seit langem, dass sie häufig ihre Schichten damit verbringen, mit ihren Patienten vor den Notfallaufnahmen der Krankenhäuser zu warten. Die Spitäler leiden an permanenter Bettenknappheit, weil viele ältere Patienten zwar zur Entlassung bereit sind, für sie aber keine Altenheim- oder Pflegeplätze zur Verfügung stehen. Der Frust über die Arbeitsbedingungen führt dazu, dass zunehmend Sanitäter ihrem Beruf den Rücken kehren: Einer Erhebung der unabhängigen Nuffield-Stiftung zufolge war im Kalenderjahr bis Juni die Zahl der Anfänger niedriger als die Zahl der Aussteiger, vom Verlust an Erfahrung ganz zu schweigen.

Angesichts des Schweigens zwischen den Tarifparteien dürften sich die zunehmend chaotischen Zustände im NHS in den kommenden Wochen weiter verschärfen. Schon ist von neuen Ausständen im Jänner die Rede, die Ambulanzfahrer planen einen weiteren Streiktag schon kommende Woche. Auch die Fahrt in den Weihnachtsurlaub wird vielerorts zum Hindernisparcours: Eisenbahner planen neue Arbeitsniederlegungen um Weihnachten herum, in der ersten Jännerwoche soll der Schienenverkehr sogar eine ganze Woche lang mehr oder weniger lahmgelegt werden. (Sebastian Borger aus London, 21.12.2022)