Die deutschen Fans hatten bei der WM wenig Spaß. Die sportlichen Ausreißer sollte man aber nicht überbewerten, am Feld regieren immer noch die alten Mächte.

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"Football unites the world". Der Werbespruch des Fußball-Weltverbands ist auch die Lieblingsgebetsmühle seines Präsidenten Gianni Infantino – sogar an Tagen, an denen er die Fußballwelt demonstrativ in Europa und Nichteuropa spaltet. Nur die allergrößten Fußballromantiker werden sich 2022 noch einreden, dass es beim beliebtesten Sport der Welt wirklich um Völkerverbindung geht. Nein, er ist kein gallisches Dorf in einer Welt, die sich nur um Profitmaximierung dreht. Spielplanverdichtung jenseits aller Belastbarkeitsgrenzen, immer größere TV-Deals, ruinierte Vereine, die in der Hoffnung auf ein dickes Stück des Kuchens noch höhere Kredite aufnehmen.

Es geht auch im Fußball um Geld und Macht. Auch deshalb hat die WM perfekt in das Gesamtprogramm der Fifa gepasst. Dohas Suk wurde wochenlang von Argentiniern, Marokkanern, Mexikanerinnen und Tunesiern regiert, im Stadion traf man auf zahllose gebürtige Inder und Pakistani. Sonst omnipräsente Fangruppen waren unsichtbar. Drei einsame Niederländer schlenderten durch die engen Gassen. Wo ist denn der Rest? Gibt es ein Fanquartier wie bei den Deutschen auf Dubai oder wie bei den Walisern, die auf Teneriffa billig becherten? "Nein, sie bleiben einfach zu Hause. Uns fehlen sie auch." Fans blieben eher wegen der hohen Hotelpreise als wegen Menschenrechtsverletzungen fern. Die WM war ein Exklusivvergnügen einer reichen Minderheit, ließ sich aber als Fest des globalisierten Fußballs verkaufen.

Infantinos Gambit

Wichtiger als die Nationalitäten von Fans sind die Prozesse im Hintergrund – und die gehen längst in dieselbe Richtung. Europa mag im Rasenschach der König sein, aber der gibt nicht zwingend den Ton an. Es ist ein Treppenwitz, dass just die europäische Uefa Gianni Infantino 2016 ins Amt hievte, um den Jordanier Ali bin al-Hussein zu verhindern. Sowie der gerissene Schweizer im Amt war, drehte er seiner Stammkonföderation den Rücken zu. Lesothos Stimme zählt bei der Präsidentschaftswahl – und künftig auch bei den WM-Vergaben – gleich viel wie die von Frankreich.

Infantinos Strategie ist keineswegs neu. Der deutsche Investigativ-Sportjournalist Jens Weinreich berichtete jüngst von einer Episode aus dem Jahr 1998. Da machte Sepp Blatter am Tag vor seiner Wahl zum Fifa-Präsidenten vor Afrikas Verbänden Stimmung gegen seinen schwedischen Konkurrenten Lennart Johansson: "Die Europäer wollen euch alles wegnehmen!" Das wirke bis heute nach, argumentiert Weinreich, obwohl auch Europas Verbände "mehrheitlich das korrupte System stützen" würden. Den Präsidenten krönen jedenfalls die Fußball-Entwicklungsländer und nicht jene, die sich den WM-Titel ausspielen. Das muss freilich nicht schlecht sein, wenn man Fußball als Breitensport wahrnimmt, der langfristig eine weniger schiefe Spielebene bekommen soll.

Unter diesem Blickwinkel kann man auch die WM-Aufstockung auf 48 Mannschaften sehen: Europa bekommt drei zusätzliche Fixteilnehmer, Afrika und Asien je vier, Nord- und Mittelamerika drei, Südamerika zwei und Ozeanien einen. Letztere vier Verbände verlieren ihren Playoffplatz.

Die Gier der Krake

Die Erweiterung war Stimmenfang, der Modus wird mühsam, das Niveau niedriger – aber vielleicht tut es dem mittelamerikanischen Fußball ja wirklich gut, wenn Jamaika und Haiti WM-Chancen haben.

Auch abseits der Fifa entwickelt sich der Fußball weg von den Interessen europäischer Fans. Das brennendste Beispiel ist die Super League. Sie ist ein Projekt für Konsumenten außerhalb Europas, die zu nationalen Ligen eine schwächere Bindung haben. Der Druck von europäischen Fans und der ausgeschlossenen Konkurrenz hat den ersten Anlauf verhindert, aber das Projekt ist bei weitem nicht tot – und im Schatten des gescheiterten Putschversuchs breitet sich die Krake Champions League über den Spielplan aus und stiehlt den Ligen immer mehr das Rampenlicht. Die Fifa forciert mit ihrer Club-WM ein ähnliches Projekt.

Europas Ausverkauf

Die besten Ligen der Welt sind in Europa, daran wird sich so schnell nichts ändern. Aber der Ausverkauf des europäischen Fußballs ist längst passiert. Zahllose große Klubs gehören den Investmentfonds reicher Ölstaaten oder Investoren aus den USA oder Asien. Wenn schon nicht der Eigentümer, kommt zumindest das Geld oft von anderen Kontinenten: Bayern München ist Partner von Qatar Airways, der FC Barcelona hat verschiedenste Rechte an US-Firmen verkauft und steht bei der Investmentbank Goldman Sachs in der Kreide. Als die spanische Liga begann, ihre Anstoßzeiten für den chinesischen TV-Markt vorzuverlegen und Supercups in Autokratien auszutragen, gab es noch einen Aufschrei, mittlerweile ist es Normalität. Man folgt dem Geld.

Natürlich gibt es die europäischen Privilegien noch, diese Reste geerbter Macht. Die Regeln des Fußballs schreibt das International Football Association Board, die Hälfte der Mitglieder kommt aus Großbritannien. Die ganze Welt bildet Spieler primär für Europas Ligen aus. Akademien von Brasilien bis Senegal arbeiten nach dem europäischen Modell – auch deshalb, da Klubs wie Red Bull Salzburg oft ihre Finger mit im Spiel haben.

Betrachtet man die Entwicklung aus einer internationalen Perspektive, ist es zumindest oberflächlich eine Erzählung der Ermächtigung, ein Abbauen kolonialer Strukturen. Ja, die besten Kicker suchen immer noch den Weg nach Europa, aber zumindest bekommen sie mit ihren Nationalteams mehr Chancen, bei einer WM zu kicken. Ja, in Asien und Nordamerika werden La Liga und Premier League bevorzugt, aber immerhin richtet man sich mit den Anstoßzeiten auch nach den dortigen Konsumentinnen. Ja, die großen Klubs Europas kassieren von Menschen in aller Welt Milliarden für Trikots und Pay-TV-Abos, aber immerhin gehören sie nun auch Milliardären aus aller Welt. (Martin Schauhuber, 22.12.2022)