Ist das noch Indie? Die Grenzen zwischen Independent und Mainstream verschwimmen zunehmend – wie etwa beim von Devolver vertriebenen "Return to Monkey Island".

Foto: Devolver Digital

Zwischen 200 und 300 neue Spiele erscheinen allein auf Steam – jede einzelne Woche. Der Großteil davon stammt von kleinen, unabhängigen Studios, die sich allerdings vermehrt wieder auf Rückhalt größerer Organisationen stützen können: Auch Riesen wie Ubisoft, EA, Sony und Microsoft pflegen inzwischen ihre eigenen "Indie"-Schienen als Kontrast zu den großen AAA-In-house-Studios. Große "Indie-Publisher" wie Devolver Digital oder Annapurna verwässern den ursprünglichen Begriff, der sich auf ein heute kaum mehr verbreitetes klassisches Publisher-Developer-Verhältnis gründet.

Ist das noch Indie? Es bleibt zumindest hoffentlich kreative Unabhängigkeit übrig. Gemeinsam mit dementsprechender Ästhetik und einschlägigen Genres zeigt sich die Schublade "Indie" 2022 als Sammelbecken kleinerer Spiele, die sich dank bescheidener Budgets oft auch kreative Risiken zutrauen, großen Wert auf Originalität legen und zudem zum kleineren Preis angeboten werden.

Diese Auswahl der besten Indies des Jahres bietet einen Überblick über die spannendsten Neuerscheinungen 2022. Viel Spaß!

poncle

1. Vampire Survivors

(Windows, Mac, 4,99 Euro; enthalten im Game Pass)

Kleiner und zugleich erfolgreicher war 2022 kein Spiel: Das hypermotivierende "Reverse Bullet Hell"-Game eines Einzelentwicklers wurde schon Ende 2021 im Early Access veröffentlicht, ist aber im Verlauf des Jahres bis zum finalen Release im Oktober immer erfolgreicher geworden und hat sein eigenes Genre mit zahlreichen Epigonen begründet.

Das Hype-Game ist eine spannende Mischung aus Geschicklichkeitsspiel, Upgrade-Taktik und meditativem einarmigen Banditen. Kein Wunder, nicht wenige seiner Psychotricks zur Motivation sind der Glücksspielbranche entliehen, in der der Macher von "Vampire Survivors" zuvor gearbeitet hat. Hier ist aber kein weiterer Geldeinwurf nötig. Die Redaktion des STANDARD ist begeistert – wie Millionen andere auch.

Annapurna Interactive

2. Stray

(Windows, PS4/5, 26,99 Euro)

Mit dem Kätzchen unterwegs in der Cyberpunk-Postapokalypse: Das melancholische Gadsen-Game überzeugte im Sommer mit toller Atmosphäre, abwechslungsreichen Herausforderungen und natürlich einer felinen Hauptfigur, die zwar auf festen Pfaden, aber doch relativ frei anmutig eine vertikale Stadtumgebung erklettern durfte.

"Stray", entwickelt von einem kleinen französischen Indie-Studio, ist so was wie das Hochglanz-Indie des Jahres: Immerhin ist es hübsch genug, um auch AAA-verwöhnten Mainstream-Gamern ins Auge zu stechen. Ein Spiel, das man auch ansonsten weniger videospielbegeisterten Zeitgenossen ans Herz legen kann.

Fellow Traveller

3. Citizen Sleeper

(Windows, Mac, Xbox, Nintendo Switch; 19,99 Euro; enthalten im GamevPass)

Diese Science-Fiction-Dystopie im schicken Anime-Look verbindet originelle Rollenspiel-Mechaniken mit einer herzergreifenden, erwachsenen Geschichte, die ganz ohne Klischees und Genre-Allgemeinplätze auskommt. Gestrandet auf einer Raumstation in der hintersten Weltraumprovinz gilt es, sich als Flüchtling ein neues Leben zusammenzustoppeln.

"Citizen Sleeper" ist wunderbar geschrieben und überzeugt durch vielschichtige Charaktere, spannende Story und bedeutsame Entscheidungen, überdies bietet es tolles Artwork und einzigartige Atmosphäre. Das großteils als Ein-Mann-Projekt entwickelte Spiel beweist, dass auch mit wenig Budget Außergewöhnliches verwirklicht werden kann.

Kitfox Games

4. Dwarf Fortress (Steam Edition)

(Windows, 28,99 Euro)

Eigentlich ist die Koloniesimulation "Dwarf Fortress" seit 2006 online kostenlos verfügbar, seine Entwickler, das Brüderpaar Tarn und Zach Adams, arbeiten gar seit 2002 daran. Es ist ein ohne jede Übertreibung wahrhaft legendäres Spiel: "Minecraft", "Prison Architect", "Rim World" – die Liste der von Dwarf Fortress inspirierten Spiele ist lang. Seit 2011 wird das Kultspiel sogar im New Yorker Museum of Modern Art ausgestellt. Jetzt ist allerdings das erste Mal eine kommerzielle Version auf Steam erschienen. Die bietet nicht nur hübsche, wenn auch immer noch sehr minimalistische Grafik, sondern auch Tutorials und ein völlig überarbeitetes User-Interface.

"Dwarf Fortress", hier bereits im STANDARD gewürdigt, ist ein endlos faszinierendes Unikat, das nun endlich ein wenig zugänglicher gemacht wurde. Einarbeitung und Hingabe braucht es immer noch, bis sich Anfängerinnen und Anfängern die Faszination des komplexesten Spiels der Games-Geschichte erschließt. Es zahlt sich aus.

Obsidian Entertainment

5. Pentiment

(Windows, Xbox, 19,99 Euro, enthalten im Game Pass)

Ja, Obsidian Entertainment gehört zu Microsoft, trotzdem darf "Pentiment" auf dieser Liste stehen. Denn das außergewöhnliche Rollenspielabenteuer im Spätmittelalter ist trotz legendären Entwicklerstudios ein kreatives Wagnis, das sich nur durch die Indie-Schiene von Microsofts Spieleabo Game Pass hat verwirklichen lassen. Als originelles, erwachsenes und auch in Sachen Präsentation eigenwilliges Spiel hat es mit dem Rest der Hochglanzbranche auch in Sachen Budget wenig gemeinsam.

Als Künstlergesell Andreas Maler klären wir in einem bayerischen Dorf zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Mordserie auf – oder auch nicht. Das narrative Abenteuer begeistert durch hintergründige Handlung, historische Genauigkeit und viel Herz. Gemeinsam mit "Disco Elysium" ein Meilenstein des narrativen Rollenspiels.

Ebb Software

6. Scorn

(Windows, Xbox Series, 39,99 Euro, enthalten im Game Pass)

Jahrelang in Entwicklung, heuer endlich fertig geworden: "Scorn" ist das Spiel, von dem die surrealistischen Horrorkünstler H. R. Giger und Zdzisław Beksiński geträumt hätten. Eine biomechanische SF-Welt voll mit mysteriösen Mechanismen, grotesken Albtraumarchitekturen und blutig-schleimigen Monstern, zum Schneiden dicke Atmosphäre und eine rätselhafte Story machen das Spiel serbischer Entwickler zur Herausforderung für nicht zu zart Besaitete. Allein wegen seiner Präsentation ist der etwa acht Stunden dauernde surreale Horrortrip für diesbezüglich Abgehärtete ein Jahres-Highlight.

Aber Achtung: Wer Action oder Survival-Horror erwartet, ist hier falsch. "Scorn" ist H. R. Gigers "Myst" mit ein bisschen Überlebenskampf und an einzelnen Stellen frustrierenden Puzzles; beides sollte Horror- und SF-Fans mit Hang zum Grotesken nicht über Gebühr abschrecken.

DevolverDigital

7. Return to Monkey Island

(Windows, Mac, Linux, PS4/5, Xbox, Nintendo Switch, 22,99 Euro, enthalten im Game Pass)

Wenn Guybrush Threepwood zurückkehrt, muss das natürlich als Höhepunkt gewürdigt werden; dass das Sequel zu einem der berühmtesten Adventures der Games-Geschichte hier im Indie-Ressort und im Vertrieb von Devolver Digital auftaucht, ist ein hübscher Gradmesser für die veränderte Branche. Ron Gilberts Point&Click-Adventure bietet alten und neuen Fans das, was sie lieben und erwarten, und schafft bei aller gefeierten Nostalgie sogar noch den einen oder anderen Überraschungsmoment.

Es geht zurück auf die Affeninsel, der Zombiepirat Le Chuck, die schöne Elaine und jede Menge alte Bekannte sind auch wieder mit dabei. Ja, "RTMI" ist Fanservice, aber von der guten Sorte. Der STANDARD damals im Test dazu: "Das volle Erlebnis bleibt jenen vorbehalten, die sich schon früher in der virtuellen Karibik mit Le Chuck gematcht haben. Wer bereit ist, zumindest die ersten zwei Teile der Serie zu spielen, wird nicht nur mit diesen, sondern auch mit der neusten Guybrush-Threepwood-Geschichte viel Freude haben. Für Veteranen ist es ohnehin ein Pflichtkauf."

DevolverDigital

8. Cult of the Lamb

(Windows, Mac, PS4, Xbox, Nintendo Switch, 22,99 Euro)

Noch ein Spiel von den Indie-Profis Devolver Digital: "Cult of the Lamb" verbindet rasantes Action-Roguelite mit Farming- und Wirtschaftssimulation – und eine Extraportion schrägen Humor gibt’s obendrauf. Oder ist es umgekehrt? Egal: Als rabiates, von uralten Dämonen besessenes Opferlamm schnetzelt man sich im niedlich-blutigen Cartoonstil durch ein rasantes Actionspiel, um zu Hause im Dorf seine Sekte mit möglichst vielen Anhängern zur mächtigen Religion auszubauen.

"Cult of the Lamb" ist eine originelle Genremischung, die durch gelungenen Style und viel Abwechslung zwischen den Spielteilen langfristig motiviert. Schwarzer Humor und ein gelungener Soundtrack machen das Lamm zu einem der Indie-Favoriten des Jahres 2022.

GameSpot Trailers

9. Tunic

(Windows, Mac, Xbox, PS4/5, Switch, 27,99 Euro; enthalten im Game Pass)

"Tunic" ist das beste "Zelda" – ganz ohne Link und Zelda. Als eindeutig erkennbare Hommage an Nintendos frühe Action-Adventure-Klassiker bringt das hübsche Indie-Spiel die Magie und Seele seiner Vorbilder in die Gegenwart. Als kleiner Fuchs sind wir klassisch isometrisch auf einer mysteriösen Insel unterwegs. Achtung: Der niedliche Style verbirgt ein Spiel, das sich durchaus auch in Sachen klassische Härte an seinen Vorbildern aus der Games-Frühzeit orientiert.

Sieben Jahre lang hat der kanadische Spieleentwickler Andrew Shouldice allein an seinem Debütspiel gearbeitet – das Warten hat sich gelohnt. Bunt, niedlich, geheimnisvoll, nicht trivial und einfach rundum gelungen: "Tunic" ist ein im besten Wortsinn zeitloser Instant-Klassiker, nicht nur für Zelda-, Retro- und Indie-Fans.

Stunlock Studios

10. V Rising

(Early Access, Windows, 19,99 Euro)

Als Vampir in einer offenen, zufallsgenerierten Welt nach Opfern, Material und Schätzen suchen, Obermonster suchen und jagen und nebenbei sein Schloss zu alter Größe ausbauen: Das Early-Access-Game "V Rising" ist eine der Games-Überraschungen des Jahres. Schon nach zwei Monaten hatte das Spiel eines schwedischen Entwicklerstudios die Marke von zwei Millionen verkauften Einheiten geknackt, bislang loben fast 50.000 Rezensionen auf Steam das Spiel in höchsten Tönen.

"V Rising" sieht mit seiner fast isometrischen Draufsicht auf den ersten Blick nach Actionrollenspiel à la "Diablo" aus, eigentlich ist es aber eine clevere Mischung aus Sandbox-Survival-Spiel, Rollenspiel und MMO. Das Geheimnis des Erfolgs liegt wie beim Vorjahres-Hype "Valheim" in der perfekten Mischung aus Zugänglichkeit, Spieltiefe und freundlichem Multiplayer-Part. Wer mit Vampiren nichts anfangen kann, sei übrigens auf das ähnliche, ebenfalls heuer erschienene "Core Keeper" verwiesen. (Rainer Sigl, 1.1.2023)