Minutenlanger Applaus, dutzende stehende Ovationen, viele in Blau-Gelb gekleidete Abgeordnete – und nur eine Handvoll mürrische republikanische Mandatare: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wusste bei seiner Rede vor dem US-Kongress am Mittwochabend (Ortszeit) auch dank starker Symbolik zu überzeugen. Mit im Gepäck auf seinem heiklen Heimweg in die Ukraine hat Selenskyj die begehrten Patriot-Abwehrraketen und einen Scheck für milliardenschwere Rüstungshilfe.

Frage: Was werden die USA nun liefern?

Antwort: Teil des frischen, 1,7 Milliarden Euro schweren Militärhilfspakets der USA ist auch die Finanzierung einer Patriot-Batterie samt Munition. Die USA werden ukrainische Soldaten an dem hochmodernen Flugabwehrsystem ausbilden – höchstwahrscheinlich in Deutschland. Rund 90 Mann braucht es für die Bedienung eines einzelnen Patriot-Systems, vier Millionen Euro kostet eine einzelne Rakete. Seit den 1980ern im Einsatz der US-Armee, soll es mindestens noch bis Mitte des Jahrhunderts weiterentwickelt werden. Patriot kann Flugzeuge, Marschflugkörper, große Drohnen und Raketen auch in mehr als 100 Kilometer Entfernung erkennen und später auch abwehren. Das System kann stets 50 Ziele gleichzeitig im Visier haben und fünf zeitgleich abwehren. Für einen umfassenden Schutz mehrerer ukrainischer Städte bräuchte es aber wohl mehrere Batterien. Gegen kleinere, niedrig fliegende Drohnen kann Patriot zudem wenig ausrichten. Die Patriots ergänzen jedoch die zwei bereits gelieferten Nasams-Luftabwehrsysteme.

Frage: Könnten nun auch die Europäer weitere Waffen liefern?

Antwort: Nicht nur die USA, auch 18 weitere Staaten besitzen oder haben Kaufabschlüsse für 240 Patriot-Systeme weltweit. Zuletzt erhielten Rumänien und Schweden ihre ersten Patriots. Darüber hinaus verfügen aber auch andere strategische US-Partner wie Südkorea, Japan, Bahrain, Israel und Saudi-Arabien über das System. Auch Nato-Partner wie Griechenland, die Niederlande, Polen und Deutschland besitzen das System. Letztere gelten noch als wahrscheinlichste Lieferländer, wenngleich sie bisher äußerst zurückhaltend waren und auch ihre eigenen Verteidigungsfähigkeiten nicht schmälern wollen. Zumindest die deutsche CSU, als Teil der Union wichtigste Oppositionskraft in Deutschland, wagte sich mittlerweile aber hervor und forderte nicht nur die Lieferung deutscher Patriots, sondern auch die von Leopard-Kampfpanzern.

Österreich lieferte bisher hauptsächlich Stromgeneratoren und wird, unter Berufung auf die militärische Neutralität, wohl auch weiterhin kein militärisches Gerät zur Verfügung stellen.

Frage: Wenn es reine Defensivsysteme sind, wieso stößt sich der Kreml so daran?

Antwort: Wer ein besonders effizientes Defensivsystem hat, macht sich nicht nur selbst weniger angreifbar: Er erhöht auch die Kosten für den Gegner, wenn dieser Milliarden in teure Raketen investiert, die dann in der Luft abgefangen werden. Allerdings gilt es aufgrund der hohen Summen für Patriots, vor jedem Test oder Abschuss stets auch schwierige Kosten-Nutzen-Rechnungen zu treffen. Mit seinen S-400-Systemen hat aber selbstverständlich auch Russland ein modernes Flugabwehrsystem in seinen Reihen.

Frage: Wie könnte Russland reagieren?

Antwort: Der Kreml gab sich am Donnerstag in einer ersten Stellungnahme betont gelassen und zeigte sich überzeugt, dass die neuen Waffenlieferungen nichts an der Erreichung der russischen Kriegsziele ändern würden. Wenngleich sich internationale Experten recht einig sind, dass die neuen Defensivwaffen das Momentum in diesem Krieg nicht sofort und nachhaltig verändern – allein die Stationierung wird noch Monate dauern –, dürften sie die russischen Offensivfähigkeiten durchaus hemmen. Peskow betonte auch, dass die Lieferung der Patriots einer baldigen Beilegung des Konflikts zuwiderlaufen.

An einer solchen Lösung war jedoch auch der Kreml bisher nicht ernsthaft interessiert. Das zeigten die für die Ukraine unannehmbaren Bedingungen. Möglich ist also, dass die Russen, wie in Putins Ansprache vor wichtigen Militärs am Mittwoch angedeutet, vermehrt auf günstigere Drohnenangriffe setzen könnten. Jeder Soldat müsse Drohnen bedienen können, sagte der Machthaber im Kreml.

Selenskyj konnte sich wieder einmal auf seine pointierten Reden verlassen.
Foto: IMAGO/UPI Photo

Frage: Wie versuchte Selenskyj, die Amerikanerinnen und Amerikaner zu überzeugen?

Antwort: Selenskyj – von CNN als "Kriegsheld" bezeichnet – verfügt über ein großes rhetorisches und inszenatorisches Talent. Dieses allein wäre aber zu wenig. Seine von ihm stets mitvorbereiteten Reden schaffen es jedes Mal, das jeweils adressierte Publikum zielgenau anzusprechen. Vor dem US-Kongress hat er das getan, indem er solche Saiten anschlug, die in den USA besonders leicht zum Klingen gebracht werden können: Zum einen bezeichnete er die Finanz- und Militärhilfen nicht als "Almosen, sondern als Investition" in eine sicherere Zukunft in demokratischer Freiheit. Zum anderen verstand es Selenskyj, den Hang vieler Amerikaner und Amerikanerinnen zum Patriotismus erfolgreich anzusprechen, als er der Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, und der Senatsvorsitzenden, Vizepräsidentin Kamala Harris, eine ukrainische Flagge direkt von der Kriegsfront überreichte: "Unsere Helden (...) haben mich gebeten, Ihnen diese Fahne zu bringen, dem US-Kongress, den Mitgliedern des Repräsentantenhauses und den Senatoren, deren Entscheidungen Millionen von Menschen retten können." Das sollte auch republikanische Abgeordnete und Wähler gewinnen, die besonders am rechten Rand teils russlandfreundlich auftreten. Lauren Boebert (Colorado) und Matt Gaetz (Florida) standen beispielsweise als Einzige nicht auf, als Selenskyj im Kongress begrüßt wurde.

Frage: Was hat es mit den historischen Vergleichen in seiner Rede auf sich?

Antwort: Mit seinem Vergleich des aktuellen Status des Ukraine-Kriegs mit den Schlachten von Saratoga im Herbst 1777 landete Selenskyj einen rhetorischen Volltreffer. Saratoga gilt allgemein als der Wendepunkt im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der schließlich zur Kapitulation der Briten führte – ein Vergleich, dem sich wohl niemand im US-Kongress entziehen konnte.

Und auch die Winston Churchills Rede vor dem US-Kongress 1941, unmittelbar nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, entlehnte und abgewandelte Phrase ("Die Ukraine wird sich niemals ergeben!") war ein Beleg dafür, wie sorgfältig, detailliert und fundiert die Öffentlichkeitsarbeit Selenskyjs geplant und umgesetzt wird. (Fabian Sommavilla, Gianluca Wallisch, 22.12.2022)