Serhii Plokhys Buch setzt sich auch kritisch mit den dunklen Kapiteln der eigenen Geschichte oder der Gegenwart auseinander.

Foto: Serhii Plokhy

Moskau (…) hat unsere kleinrussische Nation von jeher gehasst; in Böswilligkeit ist Moskau seit Langem entschlossen, unsere Nation ins Verderben zu stürzen", schrieb ein verzweifelter Hetman Masepa im Dezember 1708 über den übermächtigen Nachbarn im Norden. Geschichte wiederholt sich zwar nicht, aber manchmal reimt sie sich.

Erstaunlich, wie lange die Ukraine ein weitgehend unbekanntes Gebiet auf unseren mentalen Landkarten geblieben ist. Für viele war es lange ein Teil Russlands. Das hat sich erst seit dem "Euromaidan" oder der "Revolution der Würde" 2013/14 und erst recht seit Putins Angriffskrieg vom Februar 2022 geändert.

Die Geschichte der Ukraine

Serhii Plokhy, ukrainischer Historiker und Professor an der Harvard University, beteiligt sich mit seinem Buch an der Aufgabe, weitverbreitete Unwissenheit über sein Land wenigstens in Teilen zu beseitigen. Auf über 500 Seiten schreibt er über die Geschichte des Territoriums, das heute als Ukraine bezeichnet wird: von den Anfängen bei den Kimmerern und Skythen über die Einflüsse oder die Invasionen der Griechen, Römer, Wikinger, Mongolen, Kosaken, Habsburger und vor allem der russischen Zaren und ihrer Armeen.

In seinem Standardwerk verwebt Plokhy mehrere Themen miteinander: die prekäre Lage des Landes zwischen den Großmächten; die Unabhängigkeitsbestrebungen, etwa von Ruthenen und Kosaken; das Streben nach einer eigenen Identität; schließlich die Entstehung einer demokratischen Zivilgesellschaft und die "europäische Ausrichtung der modernen ukrainischen Gesellschaft". Während Plokhys Die Frontlinie eine Sammlung von Aufsätzen und Essays darstellt, bietet Das Tor Europas ein chronologisches Narrativ.

Serhii Plokhy, "Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine". Aus dem Englischen von Anselm Bühling, Stephan Kleiner, Stephan Pauli, Bernhard Jendricke, Thomas Wollermann. € 31,50 / 560 Seiten. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2022.
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Plokhy führt den Mythos, die Ukraine sei lediglich ein Bestandteil der russischen Nation, auf die "Synopsis" aus dem Jahr 1674 zurück, einer Schrift Kiewer Mönche, die sich damals gegen Osmanen und Polen mit den Moskauer Zaren solidarisierten. Dieser Mythos wird seit dem 19. Jahrhundert in Russland verbreitet.

Sachlich, aber deutlich

Das Buch ist gut lesbar, differenziert sowie übersichtlich und setzt sich auch kritisch mit den dunklen Kapiteln der eigenen Geschichte oder der Gegenwart auseinander: Die Stichworte sind hier Babyn Jar, radikale nationalistische Strömungen oder Korruption. Der Ton bleibt sachlich, auch wenn Plokhy – zu Recht – deutliche Worte zum russischen Imperialismus findet.

Auch daran lässt der Autor – historisch fundiert und auf den letzten 70 Seiten ausgezeichnet argumentiert – keinen Zweifel: Das ukrainische Volk kämpft für seine politische Freiheit und Unabhängigkeit. Vielen außerhalb der Ukraine kommt bei dieser angeblichen Naivität ein müdes Lächeln. Vielleicht sind aber jene, die so eine zynische Haltung vertreten, die eigentlichen Idioten der Geschichte? (Georg Cavallar, 23.12.2022)