Erzählt in ihrem neuen Roman von einem Land, in dem eine liberale Moderne auf ein autoritäres Regime prallt: Leïla Slimani.

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Seit ihrem Sensationserfolg mit dem Psychothriller Dann schlaf auch du, für den sie 2016 den Prix Goncourt erhalten hat, ist Leïla Slimani eine feste Größe im französischen und internationalen Literaturbetrieb. Mit ihrem nächsten Buch, Das Land der anderen, das zwischen Familiensaga und Zeitroman changiert, hat sie 2020 gezeigt, dass sie auch den großen epischen Atem hat.

Tanzen bis zur Bewusstlosigkeit

Nun geht ihre große autofiktionale Familientrilogie über ihre französisch-marokkanische Familie in die zweite Runde. Um diese Geschichte in Ruhe erzählen zu können, hat sie sich mit Mann und Kindern ins portugiesische Exil nach Lissabon zurückgezogen. "Nichts ist genau so, alles ist wahr", sagt sie im Interview.

Der erste Band hat 1956 mit der "großen Nacht" geendet, in der vor den Augen der Familie die Häuser der französischen Siedler niedergebrannt wurden und mit ihnen ihr gesamtes französisches Erbe, ein Ereignis, das die kleine Aïcha, die von ihren adretten französischen Mitschülerinnen immer gequält worden war, nun so glücklich macht, dass sie am liebsten bis zur Bewusstlosigkeit tanzen würde, herumwirbeln wie die Choufas, von denen ihr die Großmutter immer erzählt hat.

Zwölf Jahre nach der Unabhängigkeit

Hat Leïla Slimani im erfolgreichen ersten Teil ihrer Trilogie die Geschichte ihrer elsässischen Großmutter erzählt, so steht im zweiten Teil die kluge Tochter Aïcha, die Mutter der Autorin, im Vordergrund. Wir haben sie letztes Jahr nur schweren Herzens verlassen, die tapfere Mathilde, die ihre Liebe zu Amine, den sie als Soldaten der Befreiungsarmee im Elsass kennengelernt hatte, ins Marokko der Kolonialzeit auf eine ärmliche Farm im Norden von Meknès geführt hat. Wir haben mit ihr gelitten, wenn sie ihr Heimweh mit Gugelhupf und elsässischen Oberssaucen, mit Linzertorte und Weihnachtsritualen zu stillen suchte, wenn Armut und Ausgrenzung sie quälten, wenn ihr Mann zum Rollenverständnis seiner arabischen Heimat zurückkehrte und nur noch für seine Arbeit auf der Farm lebte und sich immer mehr von ihr entfernte.

Auf der Suche nach einer neuen Identität

Aber vor allem haben wir mit der kleinen Aïcha gelitten, die trotz ihrer großen Begabung in der Klosterschule ausgegrenzt und diskriminiert wurde und nirgendwo dazugehörte. Symbol der Métissage ("Rassenmischung"), unter der sie litt, war der Citrange, der Zitronenorangenbaum, dessen Früchte ungenießbar waren.

Hat der erste Band ihrer Trilogie mit den Kämpfen um die Unabhängigkeit geendet, so setzt der mit Spannung erwartete zweite Band 1968 ein, zwölf Jahre nach der Unabhängigkeit Marokkos: Das Land selbst ist auf der Suche nach seiner neuen Identität, zerrissen zwischen Archaismen und den trügerischen Versuchungen westlicher Modernität. Eine Gesellschaft, in der die neue Oberschicht aus reichen Marokkanern und reichen Franzosen, die im Land geblieben sind, rauschende Feste feiert neben den Slums, um die herum man Mauern errichtet, damit ihr Anblick die Stimmung nicht verdirbt.

Öffentliche Hinrichtungen und künstliche Hippie-Paradiese

Ein König, der mit eiserner Hand regiert, Attentate mit öffentlichen Hinrichtungen vergilt und Studentenunruhen blutig niederschlagen lässt, aber auch aufgeklärte Intellektuelle – Roland Barthes hat eine Gastprofessur – und die künstlichen Paradiese der Hippie-Kommune Essaouira duldet. In dieser schwierigen Übergangszeit, in der noch vieles möglich erscheint, muss die nächste Generation zwischen Fortschritt und Repression, Hedonismus und Heuchelei ihren Weg finden.

Amine ist dank seines unermüdlichen Einsatzes zu einem gewissen Wohlstand gekommen, ist mit den Jahren immer schöner geworden und sieht inzwischen aus wie Omar Sharif, während sich Mathilde in all ihren mühsamen Anstrengungen verbraucht und ihre Schönheit verloren hat. Amine hat sie zwischenzeitlich betrogen und betrügt sie immer noch. Sie rächt sich, indem sie Rechnungen manipuliert und heimlich Geld auf die Seite legt. Aïcha, die so sehr unter ihrer blonden Haarkrause gelitten hat, studiert in Strasbourg Medizin, lernt und arbeitet wie besessen, macht Erfahrungen mit rassistischer Ausgrenzung, träumt von Haaren à la Françoise Hardy und versteht nicht, was die 68er-Studenten wollen. In den Augen ihres stolzen Vaters ist ihr einziger Fehler, dass sie eine Frau ist.

Wessen Sohn bist du?

Selim, Aïchas Bruder, ist froh, dass seine Schwester, in deren Schatten er immer stand, weit weg ist. Immer schon fühlte er sich ihr unterlegen, zurückgesetzt; der Unterricht bei den Jesuiten ist eine Qual für ihn, er versteht nichts, wird das Abitur nicht schaffen. Landwirt werden wie sein Vater will er schon gar nicht. Nur beim Sport, Schwimmen und Fußball, fühlt er sich wohl. Er leidet darunter, dass die Welt um ihn herum voller Väter ist, denen man Respekt zollen muss: Gott, dem König, den Militärs, den Helden der Unabhängigkeit und den Arbeitern. Die wichtigste Frage ist immer: Wessen Sohn bist du?

Er beginnt eine verhängnisvolle Affäre mit seiner schönen und unglücklichen Tante Selma – wir erinnern uns: Amine hat sie zur Heirat mit seinem hässlichen alten Vorarbeiter gezwungen, nachdem sie von einem schönen französischen Piloten geschwängert worden war ... Schließlich flieht er, nachdem sie mit ihm gebrochen hat, in eine Hippie-Kommune in Essaouira, bis sich seine Spur verliert und man ihn in den Vereinigten Staaten von Amerika vermutet. Er verschwindet schließlich kommentarlos vom Bildschirm. Hier hätte man gerne Genaueres erfahren. Selma lebt im Halbweltmilieu in der Hauptstadt, ihre unglückliche und ungeliebte Tochter wird ins Internat abgeschoben.

Auf Amines Farm hat Mathilde jetzt Luxus und Fortschritt durchgesetzt: Wie bei allen anderen wohlhabenden Farmern wird ein Swimmingpool gebaut, werden Gartenpartys gefeiert, Amine ist jetzt ein Monsieur, verkehrt im Rotary-Club. Mit diesem Pool rächt sich Mathilde für alle erlittenen Demütigungen, für die Strenge und Kargheit, die ihr Mann ihr immer wieder in allem aufgezwungen hat, es ist ihre Kompensation für die vielen Opfer, die sie gebracht hat, für ihre Einsamkeit und ihre verlorene Jugend.

Leïla Slimani, "Schaut, wie wir tanzen. Das Land der anderen. Band 2". Aus dem Französischen von Amelie Thoma. € 22,70 / 384 Seiten. Luchterhand, München 2022.
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Leerstellen sind zu beklagen

Trotz der äußerlich gesicherten Situation spürt man, wie das gesellschaftliche Leben nach der Unabhängigkeit in Repression und Korruption erstarrt, für Marokko haben bleierne Jahre begonnen. Das soziologische Institut wird geschlossen, Philosophie durch Studien zum Islam ersetzt. Omar, Amines Bruder, der sich in den Jahren davor islamistisch verhärtet hat, ist nun Polizeioffizier und erhält die öffentliche Ordnung im Sinne der Autokratie aufrecht – mit denselben brutalen Mitteln wie davor als Aufständischer.

Aïcha liebt einen sehr besonderen Mann, einen eigenbrötlerischen Marxisten, der dann aber ranghohes Regierungsmitglied wird und sich nach Traumhochzeit und Karriere in eher traditionellen Rollenmustern bewegt. Dass seine Frau Gynäkologin ist, möchte er lieber nicht öffentlich erwähnt wissen – gefangen in überkommenen Rollenklischees auch er. Sie führen das Leben der reichen Oberschicht mit Strandhaus, Jagdpartien, Bootstouren voller Leichtigkeit und Unbekümmertheit. Das spätere harte Schicksal dieses Mannes, des Vaters der Autorin, der in den schwersten Korruptionsskandal des Landes verwickelt wird und nach jahrelangem Prozess alles verliert und zwei Jahre ins Gefängnis muss, kurz darauf stirbt, schließlich erst post mortem rehabilitiert wird, hat uns Leïla Slimani in ihrem zwischenzeitlich veröffentlichten Essayband Der Duft der Blumen bei Nacht erzählt.

Schuld und Tanz

In einer in den Roman eingeschobenen Passage lässt sie diesen Vater 30 Jahre danach im Rückblick im Gefängnis sein Leben bedauern: Wie hatten sie glücklich sein können inmitten all der Attentate, Verurteilungen, Deportationen und Geheimgefängnisse? Er hätte ein anderes Leben wählen sollen, sich von der Macht fernhalten und sich dem Lesen und Schreiben widmen, sich den finsteren Mächten, die das Land in Besitz nahmen, entgegenstellen sollen. Die frühere Unbekümmertheit sieht er jetzt als Feigheit, als Verrat an den Idealen der Jugend.

Vieles in und aus Aïchas Leben hätte man gern genauer erfahren, auch die tapfere Mathilde entschwindet aus dem Blickfeld. Zudem sind die Figuren weniger plastisch als im ersten Band der Trilogie, gibt es weniger charakteristische Szenen. Vielleicht ist dieser zweite Band mit etwas heißerer Nadel gestrickt, vielleicht ist es aber auch schwerer, statt der Lebensgeschichte der Großeltern die der eigenen Eltern zu imaginieren. Zu viele Leerstellen sind zu beklagen, was aber zeigt, dass wir das gesamte Mehrgenerationenpersonal schon längst ins Herz geschlossen haben und vor allem über Mathilde und Aïcha gerne noch mehr erfahren hätten. Der Band schließt mit einer innigen Tanzszene zwischen Mathilde und Amine: Die erste Enkelin ist geboren. Sie wird Leïla heißen. (Barbara Machui, 28.12.2022)