Fast die Hälfte der 1000 Befragten berichtet in einer Umfrage von zunehmendem negativem Stress im Job, 40 Prozent von andauernder Erschöpfung.

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"Ich kann nicht mehr. Ich bin müde, kraftlos, frustriert." Frauen sprechen das eher aus als Männer, die zumeist versuchen, psychische Belastungen mit sich selbst auszumachen. Ob offen bekannt oder still erlitten: Erschöpfung ist das Phänomen der Gegenwart. Nicht von ungefähr ist die "mentale Gesundheit" der Arbeitenden Thema Nummer eins geworden. Das ist das Ergebnis von fast drei Jahren Pandemie, fast zehn Monaten Krieg in der Ukraine, täglich neuen Meldungen zur Klimakrise und zunehmender Bedrängnis in immer mehr Haushalten durch Teuerung und Energiekrise.

Woher genau kommt das Gefühl der großen Erschöpfung als Massenphänomen? Schließlich sind auch so manche Wohlsituierte ohne Existenzstress total erledigt, während Verkäufer der Straßenzeitung Augustin fröhlich in den kalten Dezemberregen lächeln, bevor sie zurück in ihr kleines Quartier gehen.

Bestsellerautor Andreas Salcher gibt in seinem aktuellen Buch eine zunächst verstörende Antwort: Diese Dauermüdigkeit komme nicht von Anstrengung, sondern von Sinnverfehlungen, Fremdbestimmungen, falschen Erwartungen, von Selbsttäuschung und mangelnder Selbstverantwortung. Die Leiter lehne oftmals "an der falschen Wand", urteilt Salcher. Dann fühle sich das eigene Tun sinnlos und irgendwie falsch an – es erschöpfe, so weiterzumachen.

Suche nach den Schuldigen

"Viele Menschen reagieren auf den äußeren Druck und die dadurch steigende innere Belastung mit Schuldzuweisungen, die sich je nach Weltanschauung an das System, das Establishment, die Politiker, den Kapitalismus oder ganz allgemein an finstere Mächte richten. Oder sie rechtfertigen ihren Verlust an Lebensfreude mit dem rasenden technologischen Fortschritt, dem sozialen Druck der sozialen Medien oder der Arbeitsbelastung im Beruf." Salchers radikale Gegenthese, nicht überraschend: "In Wirklichkeit sind wir für unser Denken und Handeln, unsere Sicht auf die Welt und deren Konsequenzen selbst verantwortlich." Daher könnten wir uns auch quasi selbst am Schopf aus der Misere ziehen.

Das kann allerdings nicht für bereits weit fortgeschrittene Erschöpfungsprozesse und Krankheitsbilder – Stichwort Burnout – gelten. Mehr als eine Prophylaxe, um nicht dort zu landen. Wie viele Menschen sich auf dem Weg dorthin befinden könnten, machte im ersten Halbjahr eine große Befragung des Jobportals karriere.at deutlich: Fast die Hälfte der 1000 Befragten berichtet von zunehmendem negativem Stress, 40 Prozent von andauernder Erschöpfung. Gleichzeitig geben fast 70 Prozent an, dass das ihre Arbeitgeber kaum oder nicht kümmert. Dort, wo mentale Gesundheit wirklich (und nicht nur in der Arbeitgeberwerbung) Thema ist, werden Coachings, Beratungen, Therapien angeboten, geht aus dieser Umfrage hervor.

Neinsagen üben

Was schlägt Salcher als erste Schritte vor? Neinsagen zu üben. Angesichts der zunehmenden Wünsche nach Arbeitszeitverkürzung und des Trends zum Quiet Quitting (nur mehr so viel arbeiten, wie unbedingt sein muss) scheinen schon recht viele Menschen im Arbeitsleben zu üben. "Wenn du nicht tust, was du eigentlich willst, wirst du erschöpft vom Nicht-Tun." Oft, konstatiert der Autor, blieben Menschen aber im "Eigentlich wollte ich"-Modus stecken und ermüden daran.

Das Nein sollte aus Salchers Sicht umfänglicher sein, auch als Selbstdisziplinierung. Zum Beispiel: einen Monat ohne Shoppen aushalten. Jeden Tag zwei Minuten der Selbstreflexion und der Dankbarkeit widmen.

Führungskräfteberaterin Susanna Wieseneder sieht im Arbeitskontext mehr als nur Selbstverantwortung gefordert. Sie beruft sich auch auf eine aktuelle Umfrage der Berater von McKinsey, in der zu fast 60 Prozent "toxisches Arbeitsverhalten" als besonders schädlich für die mentale Gesundheit zutage tritt. Soll heißen: Wer sich im Unternehmen übersehen und als beliebige Nummer behandelt sieht, fühlt sich gedemütigt und "nur als Humanressource verwendet". Wenn die Rahmenbedingungen nicht förderlich seien, werde es mit der Gesundheit schwierig. Wieseneder: "Es geht bei der Rolle der Arbeitgeber und Führungskräfte nicht darum, eine Kuschelatmosphäre zu entwickeln, in der sich alle gern haben. Würde, Respekt, Wertschätzung und Zugehörigkeit bilden den Rahmen. Individuelle mentale Techniken und Rituale können dann wirksam werden."

Es bewegt sich doch

Offenbar kommen die laufenden dramatischen Ergebnisse von Umfragen zur empfundenen Belastung inzwischen nach und nach bei den Arbeitgebern an. Wieseneder berichtet von zunehmender Nachfrage nach Schulungen, die "die Wahrnehmung von Führungskräften schärfen – auch oder gerade in der digitalen Zusammenarbeit". Angebote zum Erlernen von Selbstfürsorge und Resilienz boomen. Das sieht Arbeitsmediziner Tobias Glück (IBG) positiv. Allerdings meint auch er: Es gehe in Unternehmen nicht nur um Kursangebote, sondern auch darum, wie Arbeit organisiert und ob sie fair entlohnt werde, ob Mitarbeitende Gehör finden. "Sinn und Verantwortlichkeit entstehen zu einem großen Teil daraus, ob ich mich als wirksam erlebe und verstehe, weshalb ich Dinge tue und dass diese eine Bedeutung haben." (Karin Bauer, 27.12.2022)