Pionierin des sozialen Unternehmertums, Vorbild für Inklusion mehrfach belasteter Menschen: Gabriele Gottwald-Nathaniel.

Foto: Regine Hendrich

Jahrelang Tag und Nacht kämpfen, oft gegen Windmühlen, gegen die drohende Pleite – wieso hat Gabriele Gottwald-Nathaniel, die vor 20 Jahren die Arbeitsmöglichkeiten für Suchtkranke radikal änderte, nie gesagt: Es reicht jetzt – dann sperren wir die Gabarage eben zu? Immerhin ist ihr Job als Geschäftsführerin des Anton-Proksch-Instituts, Europas größter Suchtklinik, ja auch kein Spaziergang. Die Sozialunternehmerin hat darauf eine schlichte und klare Antwort: "Ich kann eben nicht anders. Das ist mein Leben." Das hat die 58-Jährige, mittlerweile stolze Zweifach-Oma, zweifellos zu guten Stücken ihrem großen Anliegen, ihrer Mission gewidmet. Wie stimmig und richtig das ist, kann man spüren: Ihre Gegenwart verströmt sofort Ruhe, Erdung, eine klare Zuversicht. Das überträgt sich.

Ihr Motto lautet: "Alle verdienen eine zweite Chance, Menschen und auch Materialien." Ergänzung: "Was andere wegschmeißen, dem geben wir einen Wert." Auf dieser Basis stehen mittlerweile drei Standorte in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland. 60 Menschen mit chronischen Suchterkrankungen, mit psychischen Beeinträchtigungen, mit Fluchterfahrung – "alle, die es schwerhaben", sagt sie, produzieren mittlerweile in der Gabarage. Inklusive angeschlossener Sozialprojekte (auch für Jugendliche ohne Ausbildung und Job) versammelt sie aktuell 80 Personen sozial integrativ auf dem Weg zu neuen Lebenschancen.

Ein Rundgang durch das Lager im Keller in Wien-Hütteldorf ist eine Entdeckungsreise durch Entsorgtes, man findet alles außer Elektronik – was daraus wohl noch wird?
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En détail, en gros

Sechs Lehrberufe (Tischler, Bautischler, Bürokaufleute, Einzelhandelskaufleute, Koch und Kleiderfertigung) sind im Angebot. Bearbeitet wird alles außer Elektroteile in Manufaktur, für große Stückelungen aber auch in Fertigungsstraßen. "Wir lassen uns was einfallen", kommentiert sie das Portfolio. Verpackungsmaterialien, Folien, Planen, Fahnen, Arbeitskleidung, Ausschussware – Unterschiedlichstes rattert durch die Nähmaschinen zu neuer Form und Verwendung. Rucksäcke, Taschen, Handy- und Laptop-Hüllen, Etuis, Möbel. Fußbälle werden zu Blumentöpfen, Kegel zu Vasen, Bücher zu Hockern, Heutragen zu Beistelltischchen, Filmrollen zu Weihnachtskugeln. "Wir waren auch bei der Fashion Week mit unserer Upcycling-Kleidung." Im Reiseführer Design ist Gabarage auch vertreten.

Rund 70 Firmen sind Stammkunden, Gabarage arbeitet aber auch im Auftrag von Designern. "Wir probieren, ob wir’s können, und dann machen wir’s", sagt Gottwald-Nathaniel pragmatisch-optimistisch – wie sie eben ist.

Der Bücherhocker (Bild) ist längst ein begehrtes Teil. In den Werkstätten entstehen für Firmenkunden Auftragswerke aus Planen und allerlei Textilien, aber auch Eigenkreationen.
Foto: Regine Hendrich

Mit 17 hatte sie genug von der Schule, der HAK in St. Pölten. Aus Ochsenburg, "als Kind einer stolzen Arbeiterfamilie", wie sie vermerkt, kam sie nach Wien und machte eine Lehre als Bürokauffrau. Das Lehrlingsheim der Arbeiterkammer, in dem sie wohnte, beschreibt sie als "wunderbare Erfahrung".

Offenbar hat diese Frau es gerne wirklich herausfordernd, denn mit zwei kleinen Kindern holte sie die Matura nach und entschied sich für die Sozialarbeit. "Im Zuge eines Praktikums am Anton-Proksch-Institut war mir klar: Ich kann das einfach mit diesen Menschen!" Mehrfach belastete Menschen, zu denen habe sie immer einen guten Zugang gehabt. Im Laufe der Jahre baute sie die Drogenberatungsstelle auf. 2002 wollte sie das kreative Potenzial suchtkranker Menschen nützen, um sinnstiftende Arbeit zu ermöglichen, und da kam eine Ausschreibung gerade richtig. Der damalige Sozialbereich war verblüfft – das Anton-Proksch-Institut stand dahinter: Gabarage war geboren. Konzipiert als sozialökonomischer Betrieb – finanziert teils aus Förderung, teils aus eigener Kraft. "Upcycling" – dieser Begriff war damals superneu.

Mit vielen Siegen

Es folgte eine wechselhafte, teils krisenhafte Geschichte. 2012 gründete sie zwecks Rettung des Projekts einen eigenen Verein. Und studierte so ganz nebenbei noch Sozialmanagement und absolvierte eine therapeutische Ausbildung. Betriebswirtschaftliche Kompetenzen habe man ihr lange und sehr deutlich abgesprochen, erzählt sie. Unterkriegen lassen? Niemals. Lieber bewerben für die Geschäftsführung des Instituts, die sie seither ausübt. Es sei die Aufgabe von Menschen in Führungseliten, für faire und gute Arbeit zu sorgen.

Bei Gabarage stehen für 2023 Eigenerlöse zwischen 700.000 und 900.000 Euro auf dem Plan. Das sind rund 50 Prozent der Umsätze, die sich zum anderen Teil aus Mitteln der Länder, der Drogenkoordination, des Arbeitsministeriums und des Arbeitsmarktservice ergänzen.

60 Menschen mit chronischen Suchterkrankungen, mit psychischen Beeinträchtigungen, mit Fluchterfahrung – "alle, die es schwerhaben", sagt Gottwald-Nathaniel, produzieren in der Gabarage.
Foto: Regine Hendrich

Was über all die Jahre die Kraftquelle ist? "Ich mag Menschen. Und was für andere Müll ist, ist mir wertvoll." Und: "Nichts ist so identitätsstiftend wie Arbeit." Gabriele Gottwald-Nathaniel ist mittlerweile vielfach ausgezeichnet (auch den Preis für die besten sozialunternehmerischen Ideen, den Get Active Social Business Award von Wirtschaftsuni, Coca-Cola und DER STANDARD, hat sie gewonnen), sitzt in vielen beratenden Gremien und hat viele junge Frauen als Mentees.

Immer wieder kann man sie überrascht von der eigenen Wirksamkeit erleben, von ihrer Kraft als Vorbild. Es strenge sie gar nicht an, sagt sie und berichtet von der Idee eines Social Franchising, der Skalierung der Gabarage in Lizenz. Wann ist ihre Arbeit fertig? "Das kann ich doch heute noch nicht sagen! Man entdeckt uns jetzt erst so richtig im Zuge von Nachhaltigkeit und Re-Use." (Karin Bauer, 27.12.2022)