Kosovo-Serben trugen diese Woche bei Protesten eine riesige serbische Flagge.

Foto: Bojan Slavkovic / AP

Sie hielten eine 250 Meter lange serbische Fahne über ihren Köpfen und beteuerten ihre Loyalität zum serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić. Die Demonstration von etwa 1.500 Serben im Norden des Kosovo bei Rudare diese Woche ist ein weiteres Zeichen dafür, dass Politiker – allen voran in Belgrad – auf Eskalation setzen. Seit Monaten nehmen die Spannungen im Norden des Kosovo, wo viele Serben leben, zu. Anfang November haben hunderte Kosovo-Serben die kosovarischen Institutionen – auch auf Geheiß Belgrads – verlassen. Weil durch diesen Boykott nun auch zu wenige Polizisten im Norden des Kosovo sind, gibt es ein Sicherheitsvakuum.

Vor zwei Wochen wurden zudem neun Straßenbarrikaden im Norden des Kosovo errichtet. Damit protestierten Kosovo-Serben vor allem gegen die Festnahme des ehemaligen Polizisten Dejan Pantić durch die kosovarischen Behörden. Pantić wird vorgeworfen, ein Wahllokal angegriffen zu haben. Er befindet sich in Jarinje. Die kosovarischen Behörden wollen ihn nach Prishtina überstellen, die serbischen Behörden wollen ihn nach Belgrad bringen. Im Hintergrund wird verhandelt. Möglicherweise könnte er im Norden des Kosovo bleiben.

Militante Gruppen aus Serbien

Vertreter der Nato-geführten Kfor-Truppen, die seit 1999 im Kosovo stationiert sind, versuchen indes, für Ruhe und Sicherheit zu sorgen. Gemeinsam mit Spezialeinheiten der kosovarischen Polizei wurden Checkpoints errichtet, um den Verkehr sicherzustellen. Kfor-Soldaten verhinderten kürzlich auch, dass militante Gruppen aus Serbien kommend in den Kosovo eindringen konnten. Auch Beamte der EU-Rechtsstaatsmission Eulex befinden sich im Norden des Kosovo.

Vor wenigen Tagen hatte der deutsche Botschafter im Kosovo, Jörn Rohde, gemeint, die Barrikaden sollten noch vor Weihnachten abgebaut werden. Zudem sei das Ansinnen von Vučić, 1.000 Sicherheitskräfte aus Serbien in den Kosovo zu senden, "absurd und inakzeptabel". Vučić hatte sich auf die UN-Resolution 1244 aus dem Jahr 1999 bezogen – damals mussten serbische Sicherheitskräfte und Militärs den Kosovo verlassen. In der kosovarischen Regierung wurde seine Ankündigung, bei der Kfor um eine Genehmigung zur Entsendung von Militärs in den Kosovo anzusuchen, als Bedrohung aufgefasst. Denn im Kosovo gibt es die Sorge, dass die serbischen Militärs einmarschieren könnten, um den Norden des Landes zu besetzen.

Sicherheit durch Kfor und Nato

Der äußere Sicherheitsrahmen des Kosovo wird seit 1999 nur durch die Kfor und die Nato garantiert. Gemäß der Verfassung des Kosovo und dem von der internationalen Gemeinschaft begleiteten Prozess der Unabhängigkeit sind die kosovarischen Institutionen für die innere Sicherheit zuständig. Diese rechtliche Alleinzuständigkeit wird von Serbien durch die Teilnahme am Dialog anerkannt.

Serbien hat die Unabhängigkeit des Kosovo aber nie akzeptiert und erachtet das gesamte kosovarische Staatsterritorium als zu Serbien gehörend. Vučić meinte, Botschafter Rohde sei "für seine antiserbischen Ansichten bekannt und mischt sich in alles ein, einschließlich der Frage, welche Art von Bohnen die Menschen in Nord-Mitrovica essen werden". Weiters meinte der Staatspräsident, dass Rohdes Aussage, "eine Bedrohung für das serbische Volk" sei. Deutschland wolle die vollständige Dominanz auf dem Balkan, fügte Vučić hinzu.

"Brutal und unhöflich"

Ähnlich äußerte sich auch die serbische Premierministerin, Ana Brnabić. Sie bezeichnete die Aussagen von Rohde als "brutal und unhöflich", was zu einem diplomatischen Eklat zwischen dem deutschen Außenamt und der serbischen Regierung führte. Brnabić meinte, es sei offensichtlich, dass dem deutschen Botschafter Weihnachten wichtig sei und er nach Hause wolle, um sich auszuruhen, weshalb ihn die Barrikaden störten. Sie fügte hinzu, dass internationale Institutionen nicht daran interessiert seien, wozu die Barrikaden dienten und "wo alle unsere Verhafteten sind". Sie meinte zudem, dass Serben im Kosovo "Folter" erfahren würden.

Das Außenamt in Berlin zeigte sich indes sehr besorgt über die Spannungen im Norden des Kosovo. "Die illegalen von Kosovo-Serben errichteten Barrikaden, die zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, müssen so schnell wie möglich abgebaut werden", sagte ein Sprecher des Außenamts zum STANDARD. Der deutsche Botschafter Rohde habe sich hierzu in Prishtina klar geäußert und erneut an Serbien und Kosovo appelliert, sich konstruktiv in den EU-geführten Dialog einzubringen.

Krisentreffen zwischen Serbien und Deutschland

Das Außenministerium in Berlin verweist zudem auf ein Treffen der Westbalkan-Beauftragten des Auswärtigen Amtes mit der serbischen Botschafterin am 21. Dezember in Berlin sowie der deutschen Botschafterin in Serbien mit dem serbischen Präsidenten Vučić am Tag darauf in Belgrad. Dabei sei über diese Fragen gesprochen worden. "Wir erwarten eine konstruktive Herangehensweise von Serbien. Das haben wir in diesen Gesprächen deutlich zum Ausdruck gebracht", so das Außenamt.

Weiters heißt es: "Es ist wichtig, dass Kosovo-Serben schnellstmöglich in die kosovarischen Institutionen zurückkehren. Dies ist im Interesse der Menschen, die im Norden Kosovos leben. Gleichzeitig muss Kosovo akzeptieren, die Umsetzung des 2013 und 2015 vereinbarten serbischen Gemeindeverbands auf die Tagesordnung zu setzen. Wir unterstützen den EU-Sonderbeauftragten Miroslav Lajčák bei seinen Bemühungen, im Rahmen des Dialogs nun endlich bei der umfassenden Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden Ländern voranzukommen."

Verband serbischer Gemeinden

Vučić selbst argumentiert, dass die Serben im Kosovo erst dann in die Institutionen des Kosovo zurückkehren werden, wenn die kosovarische Regierung zustimmt, einen Verband serbischer Gemeinden im Norden zu bilden. So ein Verband war im Brüsseler Abkommen 2013 vereinbart worden. Allerdings gibt es sehr verschiedene Interpretationen, was damit gemeint ist. Während Vučić darauf besteht, dass es sich um eine Gemeinschaft öffentlichen Rechts handeln muss, will die kosovarische Seite höchstens einen Verein nach Privatrecht zulassen, der der Verfassung des Kosovo entspricht. Viele Kosovo-Serben wollen indes gar keinen Verband der serbischen Gemeinden, denn sie wollen überhaupt nicht Teil des kosovarischen Staates sein, sondern zu Serbien gehören.

Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Jahr 2008 stützte sich darauf, dass Jugoslawien unter Slobodan Milošević zwischen 1989 und 1998 umfassende Menschenrechtsverletzungen gegenüber der eigenen Zivilbevölkerung im Kosovo begangen hat. Der Kosovo war ab der jugoslawischen Verfassung von 1974 eine autonome Provinz innerhalb Jugoslawiens, die den sechs Republiken fast gleichgestellt war. Unter Milošević wurde die Autonomie aufgehoben, und Albaner und nicht regimetreue Serben waren massiven Repressionen ausgesetzt.

Propaganda-Desinformation

Die Eskalation, die von der serbischen Staats- und Regierungsspitze angestoßen wird, beruht auf einer Propaganda-Desinformation. Immer wieder wird von diversen Vertretern aus Serbien nämlich behauptet, dass die kosovarische Regierung oder der kosovarische Premier Albin Kurti das Ziel hätten, die Serben aus dem Kosovo zu vertreiben. Weil es in Serbien kaum mehr unabhängige Medien gibt, wird dies wohl auch von vielen geglaubt. Zuletzt hat vor allem die serbische Premierministerin Brnabić behauptet, dass Kurti "die ethnische Säuberung der Serben aus dem Kosovo" verfolge.

Auch vor Ort wird die Propaganda aufgegriffen. Ein ehemaliger Mitarbeiter in der kosovarischen Justiz im Norden des Kosovo, Marko Jakšić, sagte diese Woche bei der Kundgebung, dass man in einem "bösen Zeitalter" lebe. Die Errichtung von Stützpunkten der kosovarischen Polizei im Norden des Kosovo habe nur das Ziel, "dieses Volk hier zu demütigen, zu erschrecken und zu misshandeln. Und das alles unter dem Deckmantel der Verbrechensbekämpfung, mit dem Ziel, uns alle hier rauszuholen." Mit dem Bau dieser Stützpunkte auf dem "illegal" besetzten Land sei der Norden "zu einer Art Reservat geworden, in dem die Jagd auf Serben bereits begonnen hat", so Jakšić. Er meinte zudem, dass schlechte Zeiten "den Adler zwingen, zwischen den Hühnern zu überwintern".

Wagner-Gruppe in Serbien

Die Anhänger der Srpska Lista im Kosovo, die unter der Kontrolle von Belgrad stehen, behaupten zudem, Kurti habe "zum Verschwinden und Töten von Serben" aufgerufen, was dieser nie getan hat. Zum Nationalismus in Südosteuropa – egal von welcher Seite er kommt – gehört immer auch eine starke Selbstviktimisierung. Die eigene Gruppe wird dabei als Opfer dargestellt, um politische Ziele zu erreichen. Dies wurde bereits in den 1990er-Jahren politisch eingesetzt, als viele Serben etwa in Bosnien-Herzegowina mit der Lüge aufgehetzt wurden, es sei ein Genozid gegen die Serben geplant, während in Wahrheit der Genozid gegen die Nicht-Serben (vor allem gegen Bürger mit muslimischen Namen) vorbereitet und dann auch durchgeführt wurde.

Bedeutsam ist aber auch, dass die Eskalation im Norden des Kosovo vor dem Hintergrund des Kriegs des Kremls gegen die Ukraine erfolgt. Westliche Diplomaten haben Sorge, dass Russland und Serbien, die erst vor wenigen Monaten ein Kooperationsabkommen für eine Abstimmung ihrer Außenpolitik geschlossen haben, in der Causa tatsächlich zusammenarbeiten. Dazu kommt, dass die Söldnertruppe Wagner kürzlich verkündet hat, in Belgrad ein Zentrum gegründet zu haben, und dass nationalistisch-radikale Gruppen in Serbien vor wenigen Tagen ankündigten, den Ort Jarinje im Kosovo einzunehmen. Im Norden des Kosovo sind auch kriminelle Gruppen tätig.

140.000 Russen in Serbien

Der russische Botschafter in Serbien meldet sich in der Frage des Kosovo häufig zu Wort. Dazu kommt, dass seit dem 24. Februar – also dem Beginn des Kriegs gegen die Ukraine – laut offiziellen Angaben 140.000 russische Staatsbürger nach Serbien gereist sind. Es ist unklar, wie viele dieser Personen dem Regime in Russland nahestehen und ob auch Geld nach Serbien transportiert wurde. Serbien ist das einzige Land in Südosteuropa, das weiterhin eine direkte Flugverbindung nach Russland unterhält. Für den Kreml könnten Spannungen im Kosovo eine Möglichkeit sein, der EU, der Nato und den USA zusätzliche Probleme zum Krieg gegen die Ukraine zu bereiten.

Der EU-Vermittler Miroslav Lajčák hat indes angekündigt, im kommenden Jahr erneut den Versuch zu unternehmen, einen Vertrag zwischen Serbien und dem Kosovo zu verhandeln, der grundlegende Probleme lösen soll. Seit vielen Jahren gilt dabei der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag zwischen der damaligen BRD und der DDR als ein mögliches Vorbild. Allerdings sind die Bedingungen für Verhandlungen angesichts der Spannungen derzeit schlecht, und es ist unklar, ob Vučić und Kurti so einen Vertrag überhaupt anstreben. Kurti beteuert immer wieder, dass ein Abkommen darauf hinauslaufen müsse, dass Serbien den Kosovo anerkennt. Dies ist allerdings überhaupt nicht zu erwarten, zumal Serbien mit Russland verbündet ist.

Keine Fristen für Abkommen

Auch der US-Sondergesandte für den Westbalkan, Gabriel Escobar, sagte kürzlich, es gebe keine Fristen für eine Einigung zwischen Belgrad und Prishtina. Und in der EU erwartet man nicht, dass Serbien den Kosovo anerkennen wird. Indes wurde vom Sondergericht für Kriegsverbrechen im Kosovo der ehemalige Angehörige der Kosovo-Befreiungsarmee (UÇK) Salih Mustafa zu insgesamt 26 Jahren Haft in erster Instanz verurteilt. Ihm werden Folter, willkürliche Freiheitsberaubung und unrechtmäßige Tötung zur Last gelegt.

Das Gericht stellte fest, dass Mustafa 1999 persönlich an der Folterung von zwei Gefangenen beteiligt war und dass sein Versäumnis, die Freilassung eines Gefangenen anzuordnen, direkt zu ihrem Tod führte. Staatsanwalt Alex Whiting bezeichnete die Verurteilung als Sieg der Gerechtigkeit "und insbesondere für die Opfer von Salih Mustafa und ihre Familien, alle Kosovo-Albaner, deren persönliche Tragödien im Mittelpunkt dieses Falls standen und die mehr als gelitten haben zwei Jahrzehnten aufgrund der Taten von Herrn Mustafa". (Adelheid Wölfl, 24.12.2022)