"Der gesellschaftliche Status einer Person ist höher, wenn sie in einer monogamen Beziehung ist", erklärt die Psychotherapeutin Ségur-Cabanac.
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Die Fußball-WM ist gerade erst vorbei, da steht der nächste Wettkampf bevor – beziehungsweise sind wir schon mittendrin. Die Qualifikationsphase läuft seit Oktober, jetzt wird es ernst in der sogenannten Cuffing Season. Das Wort stammt aus dem Englischen, von "to cuff", was so viel bedeutet wie Handschellen anlegen. Man bezeichnet damit jene Periode im Herbst und Winter, in der Singles besonders intensiv daten. Das Ziel: noch möglichst vor den Feiertagen jemanden zu finden, den man "fesseln", also an sich binden kann, um die Familienfeiern und den Winter nicht ohne Partner verbringen zu müssen. Ab Oktober werden potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten gesammelt, bis Weihnachten wird begutachtet, so lautet der im Internet allgemeingültige Spielplan. Die Cuffing Season gipfelt dann im Champions-League-Finale am Valentinstag, bevor sich viele sogenannte "situationships" – also kurze Gspusis, wie man in Österreich sagt – wieder auflösen.

Unwohlsein während der Feiertage

Dass die Cuffing Season nicht nur ein witziges Internetphänomen unter Single-Personen ist, zeigen die Zahlen. Auf der Dating-App Bumble wird etwa im Oktober, November und Jänner eindeutig am intensivsten gedatet. 58 Prozent der Singles fühlen sich laut einer Umfrage der App während der Cuffing Season und in der festlichen Zeit unwohler als sonst damit, ohne Partner oder Partnerin zu sein. "Man will halt über die Feiertage zumindest jemanden haben, mit dem man während der ganzen Familienfeiern hin- und herschreiben kann", sagt Hana. Sie ist 30, heterosexuell und datet seit eineinhalb Jahren online.

Nach acht Jahren Beziehung freute sie sich auf das Abenteuer Dating. "Ich hab’ mir das urlustig vorgestellt!", erinnert sie sich. "Ich dachte, man ‚swiped‘ abends ein bissl während des Fernsehens und hat urviele nette Dates." Vielleicht ergibt sich daraus Casual Sex, vielleicht verliebt sie sich wieder, wer weiß das schon? Die Vorfreude war jedenfalls groß. Die Ernüchterung wenig später auch. "90 Prozent der Zeit finde ich Onlinedating frustrierend", sagt Hana heute. Was ist passiert?

Menschen als Konsumobjekte

Dass Menschen oft mit naiven Vorstellungen ans Onlinedating herangehen, beobachtet die Psychotherapeutin Magdalena Ségur-Cabanac auch bei ihren Klientinnen und Klienten in der Praxis. "Es wird einem so verkauft, als ob es einfach wäre, über Apps respektvolle Begegnungen oder Liebe zu finden. Aber das stimmt so nicht", stellt sie klar. Das beginnt schon damit, dass Dating-Apps das Gefühl vermitteln, es sei eine unendliche Zahl an potenziellen Partnern vorhanden. Genau das schürt aber die Angst vor dem Singledasein, weil es keine Entschuldigung für das "Scheitern" am Datingmarkt gibt. Das ist mittlerweile auch wissenschaftlich untersucht, etwa durch eine am Institut für Kommunikationswissenschaften der Uni Wien durchgeführte Studie, die über Science Direct abrufbar ist.

Gleichzeitig entsteht durch die übermäßige Verfügbarkeit an potenziellen Partnern ein Gefühl der Überlastung bei der Auswahl – und umgekehrt der Eindruck, sich selbst verkaufen zu müssen. "Viele beginnen, sich als Konsumobjekte zu sehen und schauen auch andere auf diese Weise an", sagt Ségur-Cabanac. Das führt aber dazu, dass die Kontakte weniger Tiefgang bieten, man lässt sich auf niemanden mehr so richtig ein – und das tut weh. "Ablehnungen sind an der Tagesordnung", bestätigt auch Andreas. Er ist 36, datet Männer, und ist seit 2009, als es mit Grindr die erste Schwulen-Dating-App gab, online unterwegs. Er ist jetzt seit fünf Jahren Single, davor hatte er vier Beziehungen. Drei davon sind über Onlinedating entstanden, so wie die Hälfte aller Beziehungen heute.

Matchen, schreiben, treffen?

Der Weg dorthin ist oft mühsam, berichtet Hana. "Ich dachte, man macht sich etwas aus, dann tauchen beide an dem vereinbarten Ort auf, man trinkt was, hat’s lustig, und am Ende sagt man sich, ob man sich leiwand gefunden hat oder nicht." In der Praxis ist das oft anders. Von den Menschen, mit denen man matche, komme man nur mit wenigen auch ins Gespräch. Mit noch viel weniger Menschen unterhalte man sich gut und gerne – und davon gebe es wieder nur einen Bruchteil, mit dem man sich tatsächlich treffen wolle. "Der Prozess vom Swipen bis zum Treffen kostet viel Energie und Zeit", sagt sie.

Im Schnitt swipen Hana und Andreas jeweils zwei Stunden pro Tag, schätzen beide. Was die Sache emotional so anstrengend macht: "Ich bin mir nie sicher, ob das Date auch wirklich stattfindet, bevor die andere Person vor mir steht", erzählt sie. Andreas kennt das Gefühl: "Ich gehe grundsätzlich schon mal davon aus, dass es nichts wird."

Weil viele Onlinekontakte nur an der Oberfläche kratzen, ist jede und jeder ersetzbar. Das verändert die Datingkultur – hin zur Unkultur. Dates werden kurzfristig abgesagt, Gespräche verlaufen im Nichts, man wird ohne ersichtlichen Grund plötzlich ignoriert. Diese Erfahrung hat auch Franziska gemacht. Die 47-Jährige war ab 2005 insgesamt 13 Jahre Single. Einen Ausflug in die Onlinedating-Welt hat sie gemacht – und diesen schon bald wieder abgebrochen: "Ich habe oft Stunden ins Chatten und den Aufbau einer potenziellen Beziehung investiert, und plötzlich ist das Gegenüber einfach verschwunden. Ich hatte das Gefühl, ich verplempere meine wertvolle Freizeit mit irgendwelchen Idioten." Die Wienerin hat sich dann wieder auf die reale Kennenlernwelt verlegt: "In einer Bar laufen auch viele seltsamen Typen herum. Aber bei so einem Flirt kann man ziemlich schnell abchecken, was dahintersteckt. Und wenn nur blöde Sprüche kommen, kann ich das ungute Gefühl wenigstens zurückspiegeln und bleibe nicht im luftleeren Raum damit stehen."

Alternativloses Onlinedating?

Wenn Onlinedating so mühsam ist, die Erfolgschancen gering sind und man ständig verletzt wird, warum machen es dann so viele? "Es ist alternativlos", sind sich Hana und Andreas einig. Der Job, die Hobbys und der Freundeskreis sind gefestigt. Für Menschen mit stressigem Alltag sei es die einzige Möglichkeit, neue Menschen kennenzulernen. Und: Die Apps können abhängig machen. Matches aktivieren, ebenso wie Likes auf sozialen Medien, das Belohnungszentrum im Gehirn. Man will immer mehr davon.

Dahinter stecke die Angst vor oder das reale Erleben von Einsamkeit. Dabei müsse man aber unterscheiden zwischen Einsamkeit und Alleinsein. Letzteres ist eine bewusste und freie Entscheidung, betont die Psychologin Laura Stoiber. "Einsamkeit dagegen ist verbunden mit einem Gefühl der Traurigkeit über diesen Zustand, man erlebt eine Diskrepanz zwischen der Art von Beziehung, die man sich wünscht, und den tatsächlich im Leben vorhandenen Bindungen." Oft geht damit das Gefühl einher, dass man von niemandem verstanden wird, sich nirgends zugehörig fühlt.

"Winter-Beziehung" finden

An Weihnachten ist dieses Empfinden bei vielen besonders präsent. Das beschreibt auch Franziska: "Ich habe eine sehr gute Beziehung mit meiner Familie. Aber wenn sich am Heiligen Abend Partner, Eltern und ihre Kinder um den Hals gefallen sind, war ich zwar auch dabei, aber ich habe mich trotzdem nicht so richtig zugehörig gefühlt."

Kein Wunder also, dass es die Cuffing Season gibt. Dieser Druck verleitet so manche Menschen dazu, alles daranzusetzen, eine "Winter-Beziehung" zu finden, beobachtet man bei der Dating-App Bumble. Aber: Meistens halten diese nicht einmal so lange wie der Winter selbst. Psychologin Stoiber wundert das nicht: "In solchen Beziehungen geht es oft nicht darum, eine erfüllende Partnerschaft zu haben, der Wunsch ist vielmehr, nicht alleine zu sein. Dann neigt man aber dazu, sich zu verstellen, man ist nicht mehr authentisch."

Dieses semizufriedenstellende Dahindaten mit Kurzzeitbeziehungen führt aber nur zu noch mehr Einsamkeit und bestätigt das Gefühl, dass man, so wie man ist, nicht genug ist. Aus dieser Schleife kommt man nur heraus, wenn man sich sehr offen und ehrlich mit sich selbst auseinandersetzt. Stoiber betont: "Man muss für sich überlegen: Welche Art von Beziehung brauche ich überhaupt? Was erfüllt mich im Zusammensein?" Ist einem das nicht klar, kann es schwierig werden, eine erfüllende Bezihung zu formen – egal ob diese online oder offline entsteht.

Beziehung zu Weihnachten? Viele Menschen wünschen sich über die Feiertage einen Partner oder eine Partnerin.
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Und, wann findest du jemanden?

Zu alledem kommt der Druck von außen. Gerade zu Familienfesten erleben viele Single-Shaming, also das Abwerten und Beschämen von Singlepersonen. Denn obwohl in Österreich knapp 1,8 Millionen Menschen Singles sind – das ist etwa ein Fünftel der Bevölkerung –, ist für viele die Paarbeziehung immer noch das Ideal. "Wir leben in einer mononormativen Gesellschaft. Der gesellschaftliche Status einer Person ist höher, wenn sie in einer monogamen Beziehung ist", erklärt die Psychotherapeutin Ségur-Cabanac dieses Phänomen. Viele betrachten Alleinsein immer noch als bloßen Übergangszustand zwischen zwei Beziehungen, der möglichst schnell beendet werden muss.

Dabei wäre es gut, sich von der romantischen Vorstellung eine Zweierbeziehung sei automatisch glücklich, zu lösen. "Die häufigsten Themen bei mir in der Praxis sind Beziehungsprobleme", erzählt Psychologin Stoiber aus ihrer Arbeit. Sie betont: "Einsamkeit entsteht nicht automatisch durch das Alleinsein. Man kann auch in einer nach außen gut wirkenden Beziehung einsam sein."

Wunsch nach Bindung

Wobei der Wunsch nach Bindung absolut nachvollziehbar ist, der Mensch ist ein Beziehungswesen. Das zeigen viele Studien, ganz besonders deutlich aber eines der längsten und aufwendigsten Studienprojekte, die es jemals gab: die Harvard Study of Adult Development. Seit 1939 untersucht man eine Gruppe von Menschen, die Beziehungen, mit denen sie leben, und wie sie sich dabei entwickelt haben. Eine der Kernaussagen: Menschen, die gesellschaftlich besser eingebunden sind in ein Netzwerk aus Familie und Freunden, sind gesünder, glücklicher und werden älter als einsame Menschen. Relevant ist dabei aber die Qualität der Beziehungen: Es geht nicht um die Menge, vielmehr reicht schon eine Person, mit der man eine Herzensverbindung hat. Mit dieser Person muss man aber nicht unbedingt in einer Partnerschaft leben. Das kann genauso gut ein Freund, eine Freundin, ein Bruder oder eine Tante sein.

Trotzdem wünschen sich natürlich viele eine Zweierbeziehung. Ist man sich darüber klar, was man da konkret will, kann man sich auf die Suche machen, online genauso wie offline. Eine Suche ist es nämlich in den allermeisten Fällen, sagt Stoiber: "Das ist ähnlich wie bei einer Wohnungssuche, da muss man auch oft 25 besichtigen, bis eine passt." Dabei die Möglichkeiten, die Onlinedating bietet, nicht zu nutzen, fände sie schade. Denn es funktioniere ja, viele Langzeitpaare, die sich auf diesem Weg kennengelernt hätten, bewiesen das. Hana und Andreas sind noch auf der Suche. Franziska ist inzwischen vergeben. Ihren Partner hat sie offline kennengelernt, ganz klassisch: auf einer Hochzeit.

(Pia Kruckenhauser, Magdalena Pötsch, 24.12.2022)