Fast ein Jahr lang herrscht im gesamten Gebiet der Ukraine nun schon Krieg. Das hätte sich zu Weihnachten vor einem Jahr am allerwenigsten Russland vorstellen können. Moskau baute damals darauf, Ende Februar in einer schnellen "Spezialoperation" die Ukraine und die Nato binnen kurzer Zeit vor vollendete Tatsachen stellen zu können. Der Rest ist leider noch nicht Geschichte. In der Zwischenzeit spüren wir alle in Europa die "Zeitenwende". Die letzten Monate haben nicht nur Tod und Zerstörung über die Ukraine gebracht. Mit den steigenden Preisen sind die Auswirkungen der russischen Aggression auch in Europa erheblich.

Die EU muss sich vorwerfen lassen, die vielen Vorzeichen des Krieges weitgehend und jahrelang ignoriert zu haben. Geopolitisch hat der Krieg dazu geführt, dass die USA als europäische Ordnungsmacht zurückgekehrt sind und sich die EU eingestehen muss, im Ernstfall nicht ohne den großen Bruder zurechtzukommen. Von der "strategischen Unabhängigkeit" ist jedenfalls kaum etwas zu spüren. Auch die gemeinsame Rüstungspolitik kommt nur zaghaft vom Fleck.

Seit fast einem Jahr leidet die ukrainische Bevölkerung und Infrastruktur unter den russischen Angriffen.
Foto: EPA/ SERGIY KOZLOV

Zukünftige Entwicklungen

Die große Frage, die über allem schwebt: Wie geht es 2023 weiter? Sicher ist, dass das neue Jahr so beginnen wird, wie das alte endet: mit russischen Angriffen auf ukrainische Städte und Infrastruktur und viel menschlichem Leid. Die Ukraine befürchtet einen neuen russischen Großangriff. Wladimir Putin – der diese Woche, bewusst oder nicht, erstmals von "Krieg" sprach – hält daran fest, dass die Ukraine als Staat keine Daseinsberechtigung hat, Wolodymyr Selenskyj will die Ukraine in den Grenzen von 2014 zurück. Zwei unvereinbare Positionen, die dazu führen könnten, dass 2023 auch im Zeichen der Kämpfe um die annektierte Krim-Halbinsel steht.

Dabei wird es weiter westliche Unterstützung geben, aber so dosiert, dass es nicht zum Flächenbrand kommt. Ein hin und her brandender Abnützungskrieg könnte noch lange dauern, auch mit dystopischen Szenarien. Auf einen Putsch in Russland sollte man vorerst nicht spekulieren, dazu sitzt Putin noch zu fest im Sattel, solange sich Niederlagen nicht häufen.

Im günstigsten Fall eröffnen sich Zeitfenster für kriegsbeendende Verhandlungen, in denen die Kriegsparteien mit der internationalen Gemeinschaft 2023 ein "gesichtswahrendes Ausstiegsszenario" für Putin finden. Dann kann mit der juristischen Aufarbeitung begonnen werden. Wann, wenn nicht zu Weihnachten, darf man sich das zumindest wünschen. (Manuela Honsig-Erlenburg, 23.12.2022)