Das Türkei-Abkommen sollte ein warnendes Beispiel sein, sagt Migrationsexpertin Judith Kohlenberger im Gastkommentar.

Im Sommer wurde dagegen protestiert, jetzt hat ein britisches Gericht die Abschiebeflüge nach Ruanda als legal eingestuft.
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Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte noch im Juni ein eigens gechartertes Flugzeug gestoppt hatte, entschied nun der Londoner High Court, dass eine Abschiebung Asylwerbender nach Ruanda rechtmäßig sei. Zwar ist dieses Urteil nur erstinstanzlich und etabliert nicht jenen Automatismus, auf den Großbritannien gehofft hatte, um eine vorherige Einzelfallbetrachtung zu umgehen, dennoch ist man der Umsetzung des Plans ein Stück näher: Migrantinnen und Migranten, die irregulär, etwa über den Ärmelkanal, kommen, sollen nach Ruanda gebracht werden, wo ihr Asylanspruch geprüft wird. Geht das Verfahren positiv aus, dürfen sie bleiben. Nach Großbritannien zurückkehren können sie in keinem Fall.

So weit, so bekannt. Die Auslagerung von Asylverantwortlichkeit an Drittstaaten ist in der europäischen Asylpolitik nichts Neues. Und tatsächlich mögen ihre realpolitischen Effekte kurzfristig "positive", zumindest intendierte sein. Immerhin war es der EU-Türkei-Deal und nicht das vermeintliche Schließen der Balkanroute, was zu einem signifikanten Rückgang irregulärer Ankünfte im Frühling 2016 führte. Mittel- und langfristig sind diese jedoch nicht nur wieder stark angestiegen, wie die Debatte der letzten Monate verdeutlicht, sondern es zeigen sich auch zunehmend die hohen Kosten dieser Externalisierung, und zwar für alle Beteiligten.

Wirklich Schutz?

Für Geflüchtete stellt sich die Frage, ob sie im Drittstaat wirklich den Schutz erhalten, den sie in ihrem Heimatland nicht mehr vorgefunden haben. Das ist der Knackpunkt, der entscheidet, ob Auslagerung überhaupt mit der Genfer Flüchtlingskonvention kompatibel ist. Ob die Rechte der Betroffenen nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis gewährt werden, bleibt unklar, stand Ruanda doch immer wieder wegen Menschenrechtsverletzungen in der Kritik.

"In Externalisierungsfantasien offenbart sich das Spannungsverhältnis zwischen staatlichen Eigeninteressen und universellen Ansprüchen der Menschenrechte."

Für Drittstaaten kann die Aufnahme einer hohen Zahl an Geflüchteten innerhalb kürzester Zeit, ohne begleitende Integrationsmaßnahmen oder Einbindung der Bevölkerung, zu Destabilisierung führen – ein Umstand, der die Türkei zunehmend innenpolitisch beschäftigt. Bereits jetzt zählt Ruanda zu den am dichtesten besiedelten Staaten des afrikanischen Kontinents, wirtschaftlich wie sozial sind die Lebensumstände für viele Einwohnerinnen und Einwohner prekär. Ihnen hilft es wohl wenig, dass Großbritannien knapp 140 Millionen Euro für den Deal zahlt, jährlich sollen weitere 1,6 Milliarden folgen. Und nicht zuletzt begeben sich die auslagernden Länder durch solche Deals in Abhängigkeiten, die sie erpressbar machen.

In Externalisierungsfantasien wie jener der Briten nach Ostafrika offenbart sich das Spannungsverhältnis zwischen staatlichen Eigeninteressen und universellen Ansprüchen der Menschenrechte. Denn paradoxerweise wird die Durchsetzung Ersterer auf Dauer erschwert, immunisieren solche Abkommen doch weitgehend gegen Kritik. So geschehen im Falle des türkischen Premiers Recep Tayyip Erdoğan, der die vier Millionen syrischen Geflüchteten, die die EU für viel Steuergeld in sein Land auslagerte, gerne als Hebel in außenpolitischen Auseinandersetzungen einsetzt. Jederzeit kann er damit drohen, die "Grenze zu öffnen" und Geflüchtete loszuschicken – was er im März 2020 auch tat.

Hebel für Autokraten

Die Verhandlungsmasse, zu der Schutzsuchende damit geworden sind, gestaltet sich inhaltlich flexibel, was den Hebel umso attraktiver für Autokraten und Despoten macht: Ging es der Türkei noch um die Gasvorkommen im Mittelmeer, so stand beim ähnlich gelagerten Fall in der spanischen Exklave Ceuta im Mai 2021, als Marokko die Bewachung der Grenze kurzfristig aussetzte und damit hunderte Menschen, darunter viele Minderjährige, nach Europa losschickte, ein diplomatischer Affront gegen die ehemalige spanische Kolonie Westsahara im Hintergrund. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko wiederum reagierte mit dem Ankarren tausender Geflüchteter an die polnische Grenze auf die Sanktionen, mit denen er von der EU belegt worden war – und im Hintergrund, so die Vermutung, zog bereits Wladimir Putin seine Fäden.

Umso bizarrer wirkt da ein Vorschlag aus dem Herbst 2021, man solle doch die im Grenzgebiet gestrandeten Geflüchteten ausgerechnet in die Ukraine externalisieren. Was nach Ausbruch des Krieges geschehen wäre, wenn man nur wenige Wochen zuvor mehrere Tausend Schutzsuchende nach Kiew gebracht und von dort mit EU-Geldern verteilt hätte, möge sich jeder selbst ausmalen.

Abschreckende Beispiele

Die Gefahr, dass andere Drittstaaten diesen abschreckenden Beispielen folgen könnten, scheint real. Ist es doch ein Leichtes, die Sollbruchstelle der EU aufzuspüren, denn die Asylpolitik der letzten Jahre lässt nur einen Schluss zu: dass sich die Europäer vor nichts mehr fürchten als vor der Ankunft Geflüchteter.

Genau darin läge aber auch der Weg aus der Misere: Hätte Europa endlich ernst gemacht mit einer gemeinsamen, humanen und grundrechtsorientierten Asyl- und Migrationspolitik, statt sich im Abschotten, Abschrecken und Auslagern zu ergehen, würden sämtliche Erpressungsversuche ins Leere laufen. (Judith Kohlenberger, 25.12.2022)