Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) und Kanzler Karl Nehammer (ÖVP). Die aktuell niedrigen Zinsen helfen der Regierung

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Bei den Staatsschulden verhält es sich so, als wären die Menschen in Österreich eines Tages schlafen gegangen und am nächsten Morgen in einer neuen Welt aufgewacht. So, als wäre das Geld abgeschafft worden. Was ist in der Vergangenheit nicht alles gestritten worden über Ausgaben. Alle paar Monate gab es Debatten darüber, ob wir uns dieses oder jenes leisten können. Ökonominnen und Ökonomen forderten mehr Haushaltsdisziplin, die ÖVP propagierte ein Nulldefizit wie einen Fetisch.

Und heute? Die Regierung beschließt aktuell wie schon in der Pandemie ein Hilfspaket nach dem anderen. Kurz vor Weihnachten wurde ein Energiekostenzuschuss für Unternehmen präsentiert, der bis zu neun Milliarden Euro kosten könnte. Und die Haushalte bekommen weitere 500 Millionen über die Länder ausgeschüttet. Auffällig ist, dass es dennoch kaum eine Debatte darüber gibt, ob wir uns das alles leisten können. Wie kommt das: Ist die Lage so entspannt, oder hat sich der Diskurs verschoben?

Die neue Welt der Staatsschulden

Von beidem etwas. Die Politik hat die Weichen neu gestellt. In der Eurozone sind die strikten Regeln zur Neuverschuldung bis Ende 2023 ausgesetzt. Schon seit Pandemiebeginn, als absehbar war, dass zusätzliche Ausgaben nötig werden, gilt diese Ausnahme. In der Energiekrise wurde sie übernommen. Der Diskurs hat sich also verschoben, ausgeglichene Haushalte sind heute keine Priorität.

Dazu kommt, dass sich auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geändert haben.

Staaten zahlen wie alle anderen Schuldner Zinsen, wenn sie sich Geld bei Fonds oder Versicherungen ausborgen. Diese Zinsen sind in den vergangenen Jahren stetig gesunken. Dafür verantwortlich war zu einem großen Teil die Europäische Zentralbank (EZB). Sie hat am Markt interveniert und jahrelang einen großen Teil der Staatsanleihen – das sind jene Schuldscheine, mit denen sich Regierungen verschulden – aufgekauft.

Die hohe Nachfrage nach Anleihen hat den Preis für die Papiere nach oben getrieben und die Zinsen für sie gesenkt. Bei Anleihen laufen Zinsen und Preis immer gegengleich.

Wie sehr sich damit die Kreditausgaben der Länder reduziert haben, lässt sich am Beispiel Österreichs gut zeigen: Im Jahr 2010 musste das Finanzministerium noch 5,5 Prozent des Budgets für Zinsen reservieren. Heuer sind es 2,2 Prozent. Das sind 8,5 Milliarden Euro, die sich Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) spart. Da gehen sich einige Hilfszahlungen aus.

Einnahmen sprudeln vorerst

Dazu kommt, dass die Wirtschaftslage gut ist und die Inflation die Staatseinnahmen zusätzlich sprudeln lässt: Wird eine Waschmaschine oder eine Tomate teurer, bekommt der Staat davon über Mehreinnahmen bei der Umsatzsteuer etwas ab. Zwischen Jänner und Oktober 2022 lagen die Einnahmen aus der Lohn-, Umsatz- und Körperschaftssteuer um 8,6 Milliarden über dem Wert im Vorjahr.

All das führt dazu, dass Österreichs Neuverschuldung heuer und im nächsten Jahr zwar aufgrund der Antiteuerungsprogramme hoch sein wird, aber die Entwicklung nicht besorgniserregend ist. Das ist keine Krise.

Dazu kommt, dass eine der wichtigsten Kennzahlen in der Schuldendebatte die Höhe der Verbindlichkeiten in Relation zur Wirtschaftsleistung BIP ist. Die Wirtschaftsleistung steigt nominell durch die Inflation derzeit stark an, einfach deshalb, weil der Wert der produzierten Waren und Dienstleistungen durch die Teuerung zunimmt. Damit sinkt die Schuldenquote im Verhältnis zum BIP heuer ebenso wie im kommenden Jahr.

Die spannende Frage ist freilich, ob das alles so bleibt. Hier sieht die Gleichung schon anders aus. Mit Jänner kommt eine Umstellung: Ein Teil der Sozialleistungen wird künftig automatisch an die Inflation angepasst. Auch die Grenzen in der Einkommenssteuer werden künftig mit der Inflation mitsteigen.

Das führt automatisch zu höheren Ausgaben und niedrigeren Einnahmen. In der Vergangenheit war es so, dass Staatseinnahmen durch die kalte Progression automatisch von Jahr zu Jahr zunahmen. Dieser Effekt kehrt sich um. Die Ratingagentur Fitch hat nicht zuletzt deshalb den Ausblick für Österreichs Staatsschulden auf negativ gesenkt. Österreich könnte also sein AA-Rating verlieren.

Ausgaben werden aber auch an anderen Stellen steigen. Die hohen Hilfen für Unternehmen aus der Pandemie sind zwar ausgelaufen. Aber die Inflation führt dazu, dass die Gehälter bei Lehrerinnen und Lehrern, Pflegekräften und natürlich der Polizei steigen werden. Dazu kommen die Kosten durch Teuerungshilfen wie den Zuschuss für Unternehmen und die Stromkostenbremse.

Die Inflation hilft gleich mehrfach

Und bei den Zinsen vollzieht sich eine Wende: Die Phase der niedrigen Zinsen geht zu Ende. Die Europäische Zentralbank hat ihre Anleihenkäufe eingestellt und zugleich den Leitzins angehoben. Damit kommt Österreich schon jetzt teurer an Kredite. Kaum jemand weiß das besser als Markus Stix, Leiter der Finanzierungsagentur Öbfa, die am Markt Kredite im Auftrag des Finanzministeriums aufnimmt.

Im vergangenen Jahr zahlte der Staat für neue Kredite noch Nullzinsen. Heuer muss er schon drei Prozent für zehn Jahre bieten, wie Stix sagt. Tendenz weiter steigend. Türmt sich da schon ein Problem auf?

Vorerst nicht. Wichtig in der Betrachtung ist weniger die Höhe der nominalen Zinsen als die Höhe der Realzinsen: Dabei wird der Zinssatz um die Inflation, den Kaufkraftverlust, korrigiert. Der Realzins zeigt also an, welche Gütermenge man sich für einen Zinsgewinn kaufen kann oder wie viel man bei einem Verlust verliert.

Nun sind die nominalen Zinsen in den vergangenen Monaten zwar stark gestiegen, die Inflation hat aber noch mehr zugelegt. Sprich: Die Realzinsen sind aktuell niedriger als im Vorjahr. In Wahrheit kommt die Regierung also weiter günstig an Geld. Dieser Effekt schwächt sich ab, sobald die Inflation sinkt.

Dazu kommt, dass es Österreich hilft, dass es sich sehr langfristig verschuldet. Im Schnitt laufen Kredite elf Jahre. Wenn nun ein alter Kredit ausläuft, tilgen Staaten ihre Schulden nicht wie Haushalte. Dafür müssten Länder viel Geld aufwenden, das woanders gebraucht wird. Staaten zahlen nur Zinsen. Läuft ein Kredit aus, ersetzen sie ihn durch einen neuen.

Noch immer laufen alte Kredite aus einer Zeit aus, als die nominellen Zinsen höher waren, als sie es derzeit sind. Selbst ohne Einberechnung der Inflation verteuert sich Österreichs Kreditaufnahme damit nur langsam. Dieser Effekt wird künftig zum Bumerang, wenn die niedrig verzinsten Anleihen der letzten Jahre durch teurere ersetzt werden. Laut Analyse des Wifo steigt die Zinsbelastung im Budget jedenfalls von heuer zwei auf 2,5 Prozent bis 2024. Dieser Trend setzt sich fort.

Eine Faustregel besagt, dass, wenn die Realzinsen etwa gleich hoch sind wie das reale Wirtschaftswachstum, die Verschuldensentwicklung stabil bleibt, wie Ökonom Thomas Url vom Wifo erklärt. Mehr Wachstum bringt mehr Steuereinnahmen. Das erleichtert es Staaten, mit höheren Zinsen zu leben. In der Vergangenheit war diese Rechnung für Österreich meist günstig, nur in den 1980er- und 90er-Jahren überstiegen die Realzinsen das Wachstum deutlich (siehe Grafik). Das ließ die Schulden stark steigen. Droht dieses Szenario erneut?

Können wir uns alles leisten?

Der Ökonom Olivier Blanchard bringt im Jänner ein neues Buch (Fiscal Policy Under Low Rates) heraus, in dem er argumentiert, dass die Realzinsen bald sinken werden. Die Kräfte, die dafür gesorgt haben, dass die Zinsen seit den später 1980er-Jahren zurückgingen, also etwa eine höhere globale Sparquote durch die alternde Gesellschaft und durch den Aufstieg Chinas, wirken weiter. Über einen Zinsanstieg bräuchten wir uns nicht groß Sorgen zu machen.

Demgegenüber argumentiert der Ökonom Kenneth Rogoff aus Harvard, dass die Phase niedriger Realzinsen vorbei sei. Höhere Investitionen, etwa in Rüstung, sorgten für mehr Kapitalnachfrage und höhere Zinsen. Wir sollten uns also sorgen.

Kurz- und mittelfristig bleibt die Lage also entspannt, danach könnten die schmerzhaften Debatten über Staatsschulden und Einsparungen zurückehren. So ist das Gesamtbild.

Das große Problem: Was wollen wir uns leisten?

Was in dieser Rechnung nicht enthalten ist, sind zusätzliche notwendige Ausgaben, finanziert über neue Schulden. Etwa für den Klimaschutz. Neue Schulden würden die Zinslast weiter erhöhen. Wofür wir Geld ausgeben, muss weiter abgewogen werden. Vorerst ist es nicht abgeschafft. (András Szigetvari, 26.12.2022)