Die westlichen Demokratien müssen aufwachen, warnt Sergej Gurijew, Leiter und Wirtschaftsprofessor der Sciences Po, im Gastkommentar.

In der Ukraine führt Putin offenen Krieg. Im Westen arbeiten seine Lobbyisten.
Foto: Imago / Vladimir Gerdo

Eine Neuverfilmung von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues erinnert an die engen Parallelen zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem aktuellen Krieg zwischen Autokratien und Demokratien. Zwar finden die Kämpfe heute in der Ukraine statt, genau wie im Ersten Weltkrieg gibt es aber mehrere Fronten: die Energiefront, die Getreidefront und, weniger beachtet, die Westfront. In allen westlichen Hauptstädten versuchen von Autokraten bezahlte Lobbyisten, Helfershelferinnen, Sympathisantinnen und "Versteher", den Zusammenhalt der demokratischen Welt zu untergraben und ihre Entschlossenheit zu schwächen, die Sanktionen gegen Russland und die Waffenlieferungen an die Ukraine fortzusetzen.

Der Titel von Remarques Roman passt auch auf die aktuelle Lage erstaunlich gut. Dass autokratische Regierungen sich in die westliche Politik einmischen, ist wahrlich nichts Neues. Der berüchtigste und am besten dokumentierte Fall ist Russlands Einmischung in die US-Präsidentschaftswahl von 2016. Das ist aber nur eines von vielen Beispielen. So hatte China versucht, Ermittlungen der US-Regierung gegen das chinesische Unternehmen Huawei wegen Betrugs und krimineller Geschäfte zu vereiteln. Und vor den Midterm-Wahlen verbreitete China mithilfe eines Heers von Social Bots Falschinformationen. In Italien brachte die jüngste Wahl eine Koalition unter Beteiligung der Lega an die Macht, die seit vielen Jahren eine prorussische Position vertritt und mutmaßlich Finanzhilfen der russischen Regierung erhalten hat.

Raffinierte Strategie

Während der russische Präsident Wladimir Putin an der ukrainischen Front ganz offen gegen internationales Recht verstößt, arbeiten seine Lobbyistinnen und Lobbyisten in den westlichen Hauptstädten versteckt genug, dass sich eine Einmischung glaubhaft abstreiten lässt. Die meisten nichtdemokratischen Regime haben diesen Modus Operandi inzwischen übernommen. Die Tyrannen in Militäruniformen des 20. Jahrhunderts sind Geschichte. Moderne Autokraten tragen gut geschnittene Anzüge und präsentieren sich als Demokraten. Das hat schon gereicht, um sie in hochrangigen Kreisen wie in Davos oder bei der G20 gesellschaftsfähig zu machen.

Es ist eine raffinierte Strategie. Bleiben die üblen Machenschaften eines Autokraten unentdeckt, bekommt er weiter Gelder und Technologie aus dem Westen. Und wenn die westliche Öffentlichkeit erfährt, dass die Gelder eines Autokraten ihre Institutionen korrumpieren, hilft das seiner Propaganda im eigenen Land.

Ein typisches Narrativ geht ungefähr so: "Stimmt, wir mischen uns im Westen in Wahlen ein, aber der Westen mischt sich bei uns ja auch ein." Diese Behauptung ist, zumindest teilweise, wahr. Die USA und Europa unterstützen tatsächlich in vielen Ländern der Welt die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien – und das zu Recht. Der große Unterschied ist, dass der Westen stolz darauf ist, für demokratische Werte zu werben, und dies ganz offen tut. Moderne Diktatoren dagegen operieren verdeckt und nutzen dazu nicht die Mittel offiziell registrierter NGOs, sondern gesetzwidrige Schmiergeldzahlungen.

Enorme Soft Power

Dieser Unterschied zeigt eines ganz deutlich: Ungeachtet ihrer vielen Schwächen verfügen die westlichen Demokratien immer noch über eine enorme Soft Power, von der die autokratische Konkurrenz nur träumen kann. Demokratien genießen immer noch überall hohe Beliebtheit – bei den Bürgerinnen und Bürgern demokratischer wie nichtdemokratischer Länder. Deshalb geben sich moderne Diktatoren ja auch als Demokraten aus.

Ohne Zweifel gibt es reichlich Kritik an den USA und Europa. Diese Kritik ist jedoch selbst das Produkt einer freien Presse und politischen Opposition, die nur in Demokratien zu finden sind. Taten sagen jedoch mehr als Worte: Einwandererinnen und Einwanderer aus aller Welt drängen nach Europa oder Amerika; nach Russland oder China will dagegen kaum jemand.

Um der Gefahr an der Westfront etwas entgegensetzen zu können, müssen wir erst einmal anerkennen, dass wir überhaupt ein Problem haben. Bis vor kurzem mussten westliche Politikerinnen und Politiker ihre Rolle als Putins Unterstützerinnen und Wasserträger mit keinerlei Ansehensverlust bezahlen. Und obwohl sich die meisten davon inzwischen gezwungen sehen, den Krieg zu verurteilen, setzen sie sich weiterhin für eine Aufhebung der Sanktionen ein. Ihre Verbindungen zu autokratischen Regimen sollten genau überprüft werden. Sollte sich herausstellen, dass sie das Recht gebrochen haben, sollten sie bestraft werden. Und wenn ihr Einsatz für Autokraten in einer rechtlichen Grauzone anzusiedeln ist, sollten sie an den Pranger gestellt und die entsprechenden Einflusskanäle mittels neuer Gesetze geschlossen werden.

Abhängigkeit verringern

Der Westen sollte aber auch seine Abhängigkeit vom Handel mit Autokratien verringern. Glücklicherweise geht die Entwicklung dank des neuen Trends zum "Friend-Shoring" bereits in diese Richtung. Dieses Konzept ist wirtschaftlich sinnvoller, als seine Kritikerinnen und Kritiker meinen, wenn man bedenkt, dass die Kosten eines Krieges die geringen Kostenvorteile durch den Handel mit Autokraten schnell übersteigen.

Schließlich sollte der Westen stärker darauf achten, wie Autokraten internationale Organisationen unterwandern. Man muss gar nicht lange suchen, um das Problem zu sehen. Seit 2021 wird Interpol von einem General aus den Emiraten geleitet, gegen den glaubwürdige Foltervorwürfe vorliegen. Und in diesem Jahr hat die Mitgliedschaft Ungarns das EU-Embargo gegen russisches Öl stark verzögert, und die Mitgliedschaft der Türkei in der Nato ist ein ernsthaftes Hindernis für den Beitritt Finnlands und Schwedens zum Bündnis.

Moderne Autokraten versuchen über verdeckte Einflusskanäle, sich selbst vor Sanktionen zu schützen. Demokratien müssen sich gegen diese Versuche wehren. Auch wenn es nichts Neues gibt, herrscht trotzdem Krieg. (Sergej Gurijew, Copyright: Project Syndicate, 27.12.2022)