Israels designierter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.

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Die New York Times hat in einem ungewöhnlich scharfen vorweihnachtlichen redaktionellen Leitartikel vor einer Gefährdung der Demokratie in Israel gewarnt. Einen Tag vorher hatte der dreifache Pulitzer-Preisträger, Thomas L. Friedman, in einem langen Bericht die bevorstehende Bildung einer ultrarechten und ultranationalistischen Regierung unter Benjamin Netanjahu als einen besorgniserregenden Wendepunkt beschrieben. Vier Parteiführer in der Regierungskoalition seien wegen Korruption oder Anstiftung zum Rassismus verhaftet, angeklagt, verurteilt worden oder im Gefängnis gewesen. Politiker vom äußersten rechten Rand sollen Schlüsselpositionen zur Kontrolle der nationalen Sicherheit, des Siedlungsbaus und des Bildungswesens erhalten.

Grundlagen des Rechtsstaats bedroht

Die Pläne zur Entmachtung des Obersten Gerichtshofes und der unabhängigen Staatsanwaltschaft bedrohen die Grundlagen des Rechtsstaates. Der 73-jährige Netanjahu, der schon 15 Jahre lang regiert hat, ist zu weitgehenden Konzessionen an die rechtsextremen Koalitionspartner bereit, um seinen seit 2019 laufenden Korruptionsprozess zu beenden und politisch zu überleben. Zu diesem Zweck soll unter anderem ermöglicht werden, Beschlüsse des Obersten Gerichtshofes durch eine einfache Parlamentsmehrheit für nichtig zu erklären.

Die fünfte Wahl in vier Jahren spiegelt die Rechtsschwenkung der israelischen Bevölkerung. Rund 60 Prozent der jüdischen Israelis werden als rechtsgerichtet betrachtet, bei der Jugend zwischen 18 und 24 Jahren steigt es auf 70 Prozent. Auch bei den arabischen Israelis, über 20 Prozent der Bevölkerung, wird vor allem bei den Jugendlichen eine Radikalisierung festgestellt. Die 37. israelische Regierung, die sechste seit 1996 unter Netanjahu, könnte sich unter dem Druck der nationalistisch-religiösen, homophoben und korrupten Verbündeten, mit 400.000 radikalen Siedlern in der besetzten Westbank unter drei Millionen Arabern, als Brandstifter entpuppen. Die Folgen der Spaltung zwischen dem liberal-säkularen Lager und dem nationalistisch-religiösen Lager, vor allem die geplanten Maßnahmen zum Abbau des Rechtsstaates, würden nicht nur die Spannungen innerhalb Israels, sondern auch in der ganzen Region heute mit noch unabsehbarer Intensität steigern.

Verwandlung Israels

Darüber hinaus warnen prominente Persönlichkeiten des Weltjudentums, wie Abe Foxman, der frühere Direktor der US-amerikanischen Anti-Diffamierungs-Liga, dass die Verwandlung Israels zu einem "fundamentalistisch-religiösen Staat, zu einem Staat des theokratischen Nationalismus" Israel von 70 Prozent des Weltjudentums abschneiden würde. Im Jahr 2018 lebten von 14,6 Millionen Juden in der Welt nur 1,36 Millionen in Europa, rund 6,5 Millionen in Israel und im besetzten Westjordanland, fast genauso viele wie in Amerika (davon 5,7 Millionen allein in den USA).

Israel ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte, eine blühende Hightech-Großmacht, der einzige pluralistische Staat in der ganzen Region. Man darf aber nicht verschweigen, verdrängen oder unterschätzen, dass allein der Schatten über diesen Rechtsstaat, über das Bekenntnis zu Menschen- und Bürgerrechten, dem Antisemitismus weltweit neue Nahrung geben würde. (Paul Lendvai, 27.12.2022)