So viel auch in Moskau und Kiew in den vergangenen Tagen die Rede von Verhandlungen war – die beiden Kriegsparteien sind einem Dialog keinen Schritt näher gekommen. Denn beide Seiten haben gleichzeitig ihre Maximalforderungen bekräftigt: die Ukraine den Rückzug der russischen Truppen aus allen besetzten Gebieten einschließlich der Krim und die Verfolgung aller Kriegsverbrechen, Russland die "Entmilitarisierung" und "Entnazifizierung" der Ukraine, also de facto Kiews Kapitulation. Beide haben damit deutlich gemacht, dass sie weiterkämpfen wollen statt reden.

Den Preis für den andauernden Krieg bezahlen vor allem die Ukrainerinnen und Ukrainer.
Foto: IMAGO/Ukrinform/ Kaniuka Ruslan

Verhandlungen

Dennoch dürfte sich im Laufe des kommenden Jahres die Frage nach Verhandlungen immer dringlicher stellen. Denn auf dem Schlachtfeld zeichnet sich zunehmend eine Pattstellung ab, die weder der Ukraine noch Russland die Möglichkeit gibt, ihre Position mit militärischen Mitteln zu verbessern. Sollten dann aus Moskau erstmals ernsthafte Angebote für Verhandlungen kommen, würde auch im Westen der Druck auf die Ukraine steigen, über diplomatische Wege ein Ende der blutigen Kampfhandlungen zu erreichen – selbst um den Preis schmerzhafter Zugeständnisse.

Die Ukraine wird dies nicht wollen. Aber sobald vor allem die USA Verhandlungen einfordern, wird sich Präsident Wolodymyr Selenskyj dem nicht verwehren können, da er ohne US-Unterstützung den Krieg nicht fortsetzen kann. Daher hat es der Westen in der Hand, den weiteren Verlauf des Krieges zu bestimmen.

Zukunftsszenarien

Dafür aber braucht es in Europa und den USA eine intensive Diskussion darüber, was dieser Krieg für die Zukunft der Weltordnung bedeutet und bedeuten soll. Es gibt derzeit drei Zukunftsszenarien: eine Waffenruhe, die den Konflikt nicht löst und von beiden Seiten jederzeit wieder gebrochen werden kann und wird; ein Friedensschluss, bei dem die Ukraine akzeptiert, dass Russland zumindest einen Teil der eroberten Gebiete behält; oder eine weitere Aufrüstung der ukrainischen Armee, damit sie die russischen Truppen aus allen Landesteilen vertreiben kann, weil nur dies einen völkerrechtskonformen Zustand wiederherstellen würde. Das schließt auch die Rückeroberung der Krim ein, die Russland besonders schmerzen und die Gefahr einer nuklearen Eskalation in sich bergen würde.

Das erste Szenario mag zwar wahrscheinlich wirken, ist aber zutiefst unbefriedigend. Um einen endlosen Konflikt zu vermeiden, muss sich der Westen entscheiden – zwischen einer Realpolitik und einer Politik der Prinzipien.

Ausübung von Gewalt

Bis 1945 wurden Grenzen sehr wohl durch Gewalt verschoben, seither ist dies jedoch nur selten geschehen. Als Saddam Hussein vor 30 Jahren Kuwait überfiel, wurden seine Truppen von einer internationalen Allianz vertrieben – zur Durchsetzung des Völkerrechts. Aber der Irak war weder eine Großmacht noch ein Atomstaat.

Müssen wir nun eine Welt akzeptieren, in der die Ausübung brutaler Macht nicht nur innerhalb von Staaten wie China, Iran oder Afghanistan hingenommen werden muss, sondern auch zwischen Staaten? Das wäre eine düstere Aussicht für die Zukunft. Der Primat des Völkerrechts kann in der Ukraine derzeit allerdings nicht mit Diplomatie durchgesetzt werden, sondern nur mit Krieg. Den Preis dafür würden vor allem die Ukrainerinnen und Ukrainer bezahlen. Sie haben daher das Recht, darüber zu entscheiden. (Eric Frey, 28.12.2022)