Zeitenwende heißt das Wort des Jahres 2022, kürzlich gekürt von der Gesellschaft für deutsche Sprache. Umgelegt auf den Jobmarkt lässt sich das als vielfältige Befreiungsbewegung beobachten. Wie immer es die modischen Fachbegriffe auch benennen: Great Resignation als das Massenphänomen des Hinschmeißens der Jobs, Quiet Quitting als Reduktion des Engagements auf das Allernötigste oder wieder auflebende Anti-Work-Bewegungen mit verschiedensten ideologischen Schwestern: Es ist großer Unmut über die alten Regeln in der Arbeitswelt sichtbar geworden. Eine Frustration, fast eine Demoralisierung hat sich gezeigt.

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Im vergangenen Jahr ist großer Unmut über die alten Regeln und Bedingungen in der Arbeitswelt sichtbar geworden.
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Bedingungen in der Arbeitswelt

Es war ein Jahr des Aufbegehrens, der Märsche und der Streiks – für mehr Wertschätzung, mehr Geld, kürzere Arbeitszeit. Die Unzufriedenheit mit den Bedingungen der Arbeitswelt ist vor allem unter Jungen zu einer Art Medaille geworden, die in Social Media heftig herumgereicht wird. Ein beträchtlicher Vertrauensverlust ist zutage gekommen – nicht nur gegenüber der politischen Vertretung, auch in Bezug auf die Zukunftsfähigkeit. Das hat auch mit sichtbar gewordener Ungleichheit zu tun – die Jahre der Pandemie haben dafür gesorgt. Weitere Ingredienzien sind, dass Remote Work wohl für einige das Arbeiten verbessert hat. Andere haben aber jede Grenze verloren und fühlen sich in Dauerabruf für den Job.

Wunsch nach anderen Arbeitszeiten

Schon zum Jahresanfang wurde der große Wunsch nach Arbeitszeitreduktion großes Thema, mussten Dienstleister ihre Services einschränken oder sogar einstellen, weil Personal fehlte. Weil sich einfach niemand bewerben wollte und der gute alte Vollzeitjob offenbar vielfach ungewollt war.

Vielen reicht es, und viele sagen das auch. Nach Lust und Laune heuern und feuern geht nicht mehr. Dazu trägt auch die demografische Kurve mit ihrem schwindenden Nachwuchs bei. Auch Arbeitsminister Martin Kocher erklärte in dieser Woche, dass der Arbeitskräftemangel anhalten wird.

Das sind viele massive Lektionen. Was haben wir gelernt, was sollen wir lernen? Die Eckpfeiler des Systems Arbeitswelt scheinen vonseiten der Arbeitenden unterspült. Und jetzt kommt auch noch die künstliche Intelligenz – aktuelles Beispiel ist Chat GPT – in den Arbeitsalltag.

Neubewertung und Neuverteilung von Arbeit

Natürlich ist auf europäischer Ebene endlich die Verknüpfung der Sozialversicherungen zu organisieren, damit Arbeitsorte legal flexibel sein können. Natürlich muss die Arbeit deutlich von Steuerbürde befreit werden. Klar muss die Infrastruktur qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung und Ganztagsschulen endlich ausgebaut werden. Vielleicht hilft auch ein neuer Anlauf zur Reform des Arbeitslosengeldes. Politik und Sozialpartner hätten von einer Neuaufstellung der Berufsberatung bis zur Vorbildwirkung echter Inklusion viele Stellschrauben in der Hand.

Aber selbst wenn sich da etwas bewegen sollte, wird es nicht die Zauberfee sein, die alles wieder in das bekannte stabile Gefüge bringt. Viele Firmen nützen ihre Spielräume, von Viertagewochen bis zu höherem Lehrentgelt, im sogenannten "war for talents". Sie sind innovativ in Personalfragen. Aber es ist gut möglich, dass auch das nur Schritte auf einem volatilen Weg sind, der in eine größere Neubewertung und Neuverteilung von Arbeit mündet, wo nicht nur klassische Erwerbsarbeit "gilt", sondern das Engagement für die Gemeinschaft, das Gemeinwohl mitgerechnet wird. (Karin Bauer, 29.12.2022)