Volker Türk (57) ist seit Oktober Hochkommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte. Der Jurist aus Linz war früher Strategiechef des UN-Generalsekretärs und bekleidete hohe Positionen im Flüchtlingshochkommissariat UNHCR. Als 15-Jähriger erwarb er den Text der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Das Büchlein liegt heute auf seinem Schreibtisch in Genf.

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Ende August verließ die chilenische Ex-Präsidentin Michelle Bachelet ihren Posten als UN-Hochkommissarin für Menschenrechte unter beträchtlichem Wirbel: Nur wenige Minuten vor dem Ende ihrer Amtszeit hatte sie einen Bericht veröffentlicht, in dem von Folter an Uiguren in Lagern der chinesischen Provinz Xinjiang die Rede war. Umso größer war die internationale Aufmerksamkeit, als es um ihre Nachfolge ging. Die Wahl fiel schließlich auf den Österreicher Volker Türk, der eine Lanze bricht für die immer noch aktuelle Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.

STANDARD: Sie sind seit wenigen Monaten Hochkommissar und mussten sich sofort mit mehreren Menschenrechtskrisen befassen. Wo ist die Lage besonders schlimm?

Türk: In Kriegen und Konflikten leidet die Bevölkerung besonders stark. Die Menschenrechte kommen unter die Räder. Wir sehen das in der Ukraine, in Syrien, im Jemen oder auch in Äthiopien, wo glücklicherweise ein Friedensabkommen geschlossen wurde. Auch wenn das Militär putscht wie in Mali und Myanmar oder wenn autokratische Regime nicht von der Macht lassen wollen wie in Nicaragua, kommt es nahezu zwangsläufig zu Unterdrückung. Wir sehen auch Länder ohne funktionierende Regierungen wie in Haiti, dort haben Gangsterbanden in der Hauptstadt Port-au-Prince ein Schreckensregime errichtet.

STANDARD: Und es gibt Staaten, in denen religiöse und ideologische Fanatiker an den Schalthebeln sitzen ...

Türk: Ja, wie im Iran oder in Afghanistan. Die Entscheidung der herrschenden Taliban in Afghanistan, den Studentinnen den Universitätsbesuch zu verbieten, ist ein weiterer entsetzlicher Schlag gegen die Rechte von Frauen und Mädchen.

STANDARD: 2023 wird die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 75 Jahre alt. Besteht Anlass zum Feiern?

Türk: Zum Feiern ist mir nicht zumute. Das Jubiläum sollte uns aber daran erinnern, welch ein Wunderwerk wir mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte haben. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs, nach dem Holocaust sagten die Länder: "Nie wieder!" Die Erklärung ist immer noch hochaktuell und bietet Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit. Sie hält fest, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Ich wünsche mir, dass alle politisch Verantwortlichen sie lesen und sie zum Maßstab ihres Handelns machen.

STANDARD: Die russische Armee terrorisiert und massakriert Zivilisten in der Ukraine. Welche Kriegsverbrechen haben Sie besonders schockiert?

Türk: Ich habe die Ukraine Anfang Dezember besucht und sah das Leid und den täglichen Tribut, den der Krieg Russlands den Menschen abverlangt. In Butscha war ich an der Stelle, wo das Leben eines alten Mannes gewaltsam beendet wurde. Er trug einen Sack Kartoffeln nach Hause. Er wurde getötet. In Isium suchte ich die Reste eines beschossenen Wohngebäudes auf. Mehr als 50 Menschen wurden unter den Trümmern lebendig begraben. Es fanden sich Spuren von Leben, die ausgelöscht wurden. Ein Schuh. Ein Klavier. Spielzeug. Ein Schrank voller Kleider. Regale voller Bücher. Ich erfuhr von Menschen mit Behinderung und Älteren, die bei Luftalarm keinen Unterschlupf erreichen können. Die Gewalt und das Töten in der Ukraine sind nicht zu begreifen. Es ist absurd und sinnlos.

STANDARD: Wo stehen Sie bei der Aufarbeitung der Kriegsverbrechen in der Ukraine?

Türk: Die Strafverfolgungsbehörden der Ukraine untersuchen derzeit 40.000 mutmaßliche Kriegsverbrechen. Mein UN-Hochkommissariat schickte schon 2014 Ermittler in die Ukraine, nach der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim durch Russland und dem Beginn der Kämpfe im Osten. Seitdem haben die Ermittler Berichte mit mutmaßlichen Kriegsverbrechen angefertigt. In einigen Fällen exekutierten russische Soldaten Zivilisten in behelfsmäßigen Gefangenenlagern. Andere wurden nach Sicherheitskontrollen hingerichtet – in ihren Häusern, Höfen und Hauseingängen. Selbst dann, wenn die Opfer deutlich gezeigt hatten, dass sie keine Bedrohung darstellten, indem sie zum Beispiel die Hände in die Luft hielten. Vieles deutet darauf hin, dass es sich bei den dokumentierten Hinrichtungen um Kriegsverbrechen handelt. Wir haben viele gerichtsfeste Beweise gesammelt und werden weitere ausfindig machen.

STANDARD: Bisher konnten die ukrainischen Behörden nur wenige Russen verurteilen. Die meisten Verbrechen in dem Krieg sind ungesühnt. Welches Signal geht von dieser Straffreiheit Putins an andere Gewaltherrscher aus?

Türk: Im Moment scheint es tatsächlich so, als würden die meisten Täter straffrei ausgehen. Wenn ihnen weder in der Ukraine noch in Russland der Prozess gemacht wird, müssen die UN-Mitgliedsländer entscheiden, ob sie ein internationales Tribunal einrichten. Einzelne Staaten können auch nach dem Weltrechtsprinzip eigene Strafverfahren gegen mutmaßliche Verbrecher einleiten, die ihre Taten im Ausland verübten. Die Geschichte lehrt uns, dass die Mühlen der Gerechtigkeit mahlen. Und die Täter müssen wissen, dass sie nicht straffrei davonkommen werden.

STANDARD: Wird sich Putin jemals vor Gericht verantworten müssen?

Türk: Das ist politisch wie rechtlich äußerst kompliziert. Ich will nicht spekulieren, aber so etwas erscheint mir zurzeit nicht realistisch.

STANDARD: Ihre Vorgängerin als Hochkommissarin, Michelle Bachelet, zögerte lange, Chinas Führung wegen der Unterdrückungspolitik zu kritisieren. Wie wollen Sie die Machthaber in Peking zur Einhaltung der Menschenrechte bewegen?

Türk: Ich setze auf die effektivste Weise und führe einen Dialog mit der Regierung. Es geht um internationale, regionale und nationale Punkte. Der Bericht meines Büros über die Lage der Uiguren enthält viele Empfehlungen, um die Menschenrechtslage zu verbessern. (Jan Dirk Herbermann, 29.12.2022)