"Die Selbstverständlichkeit, mit der inzwischen rein schematisch überprüft wird, wie viele Warnzeichen eine Person auf sich vereint, sollte eigentlich ein Anlass zur Sorge sein", sagt Autor Nico Hoppe in seinem Gastkommentar.

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Es ist wichtig, das Tabu bezüglich mentaler Gesundheit zu überwinden. Aber wenn – besonders in Social Media – Begriffe aufgeweicht werden, ist Achtsamkeit angebracht.
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Das Interesse für Themen rund um "Mental Health" floriert wie nie: Die Beschäftigung mit psychischer Gesundheit besitzt nicht nur in der Ratgeber- und Lifecoaching-Sparte Relevanz. Zunehmend gehört es auch in der Arbeitswelt, in den Medien und in der Popkultur zum guten Ton, aufrichtig zu bekräftigen, wie wichtig das Thema sei. Der in den sozialen Medien immer öfter zu vernehmende Aufruf, den Fragen bezüglich psychischer Gesundheit mehr Aufmerksamkeit zu widmen, scheint seine Realisierung längst erfahren zu haben. Angesichts des Tabus, das jahrzehntelang auf psychischen Erkrankungen lag, und des rasant zunehmenden Auftretens von Depressionen gerade unter jungen Menschen ist das auch zu begrüßen. Gleichwohl sollte diese Trivialität nicht davor zurückschrecken lassen, sich kritisch mit dem bunten Hype um das Thema Mental Health auseinanderzusetzen.

Gut gemeint

Aufklärung und Sensibilisierung ist das Motto, unter dem psychische Gesundheit heute auf das Tapet gebracht wird. Schaut man sich jedoch Begrifflichkeiten und Trends an, die die neue Durchpsychologisierung des Alltags mit sich bringt, entsteht der Eindruck, dass die angestrebte Kultur der Achtsamkeit nur eine Neuauflage der Verdinglichung menschlicher Beziehungen schafft, indem sie die Obacht vor potenzieller Manipulation und charakterlicher Verdorbenheit zum totalen Imperativ erhebt. Die Selbstverständlichkeit, mit der inzwischen rein schematisch überprüft wird, wie viele Warnzeichen – im Internet-Slang "Red Flags" genannt – eine Person auf sich vereint oder ob sie der Internet-Checkliste zur Erkennung von Anzeichen von Narzissmus entspricht, sollte eigentlich ein Anlass zur Sorge sein. Denn Psychologie bekommt so einen rein instrumentellen Charakter.

Jeder Vorwurf dient gleichsam als Joker, den es im richtigen Moment zu zücken gilt, um die moralische Oberhand zu behalten: Es bedarf heute keiner besonderen Anstrengung mehr, um als unverbesserlicher Narzisst, als manipulativer Betrüger oder als toxischer Störer abgeurteilt zu werden. Wer das hinterfragt, macht sich verdächtig: Die Vehemenz, mit der man plötzlich überall hintertriebene Persönlichkeiten vermutet, beruht auf jenem bescheidwisserischen Konglomerat aus Vereinfachung und Erfahrungslosigkeit, das gewiss jeden zum Experten adelt.

Substanz versandet

Leichtsinn zeichnet die neue Alltagspsychologie ebenso in anderer Hinsicht aus: Der Gebrauch von Termini wie Trauma oder Trigger nimmt seit Jahren zu, während die Substanz der aus der klinischen Psychologie stammenden Begriffe zunehmend versandet. Wenn jedes negative Ereignis ein Trauma ist, jedes unleidliche Thema eine Trigger-Warnung verlangt oder man sich bereits als bipolar selbstdiagnostiziert, weil man an manchen Tagen sowohl Euphorie als auch Niedergeschlagenheit durchläuft, dann verharmlost das in letzter Konsequenz tatsächliche Traumata und Erkrankungen.

"Es entsteht eine Dynamik, die psychische Krankheiten als Accessoires erscheinen lässt."

So entsteht ausgerechnet in den sozialen Medien, die zu den stärksten Treibern von Depressionen und Angststörungen unter Jugendlichen gehören, eine Dynamik, die psychische Krankheiten als Accessoires erscheinen lässt, welche man sich gegenseitig in solidarischer Demut präsentiert, um "Awareness" zu schaffen. Die vermeintliche oder tatsächliche Störung ist das Ticket, das Zugang in die jeweilige Zuspruch und Unterstützung spendende Community gewährt. Fast entsteht der Eindruck, es sei doch eigentlich gar nicht alles so schlimm. Hin und wieder mal – wie es dann verniedlichend heißt – "etwas depri zu sein" bekommt fast schon eine Aura des Abenteuerlichen und Romantischen. Verwertet und ästhetisiert man das Thema auf diese Art, lässt das die Grenze zwischen pathologischen Erkrankungen und nicht behandlungsbedürftigen Gefühlszuständen vollends verschwimmen.

Die locker daherkommende Attitüde, mit der man heute ermuntert wird, seine Ängste und Probleme mit seinen Nächsten wie auch mit dem Chef oder dem halben Internet zu teilen, erweckt den Anschein, das Thema Mental Health ziehe gerade jetzt Aufmerksamkeit auf sich, weil die Menschen weltoffener und ihr Umgang miteinander freundlicher geworden ist. Diese Suggestion verdeckt jedoch die Tatsache, dass der stärkere Fokus auf psychische Gesundheit aus einer Not heraus geboren ist. Schließlich ist es weder gehäufter individueller Zufall noch Folge einer sogenannten menschlichen Natur oder gar vererbtes, genetisch determiniertes Schicksal, wenn immer mehr Menschen psychisch erkranken. Wie jedes gesellschaftliche Phänomen hat auch dieses seine historische Genese und ist nicht einfach als bedauerliches, aber wohl oder übel zu akzeptierendes Faktum ad acta zu legen.

Zornige Ignoranz

Es liegt nahe, den Anstieg psychischer Erkrankungen auch auf die Krisen der letzten Jahre und die alles andere als freudige Aussicht auf die Zukunft zurückzuführen. Wenn auf diese Entwicklung mit verstärkter Aufklärung über psychische Gesundheit reagiert wird, ist das so richtig wie oberflächlich: Jede Reaktion bleibt auf die Behandlung der Symptome begrenzt, hat ein Moment des Hilflosen und Nachholenden. Keineswegs stellt dieser Umgang eine Notwendigkeit dar. Zu erinnern wäre beispielsweise an all jene Menschen, die mit nichts als zorniger Ignoranz bedacht wurden, als sie auf die insbesondere für Kinder und Jugendliche verheerenden psychischen Schäden durch rigide Maßnahmen und unaufhörliche Lockdowns während der Corona-Pandemie hinwiesen.

Der Fortschritt, dass man psychische Gesundheit nicht mehr als sentimentalen Kleinkram abtut, beruht also auf dem nicht mehr zu ignorierenden Rückschritt in den allgemeinen Lebensverhältnissen und dem Umstand, dass es im Kapitalismus postmodernen Zuschnitts wenig gibt, auf das sich zu hoffen lohnt. Bei dem Hype um Mental Health heiter mitzutun und ihn nicht als Krisenphänomen zu analysieren bedeutet, vor der Realität zu kapitulieren.(Nico Hoppe, 29.12.2022)