Die Wintersonne steht tief in Canitello. Der Rentner Rocco Sottilaro steht am Strand und wirft die Angel aus, weit hinaus ins tiefblaue Meer. Sein alter Bekannter Ignazio Scopelliti leistet ihm Gesellschaft. Gefangen hat Sottilaro noch nichts, aber die eine oder andere Dorade wird schon noch anbeißen.

Brücke statt Fähre: Sizilien soll leichter erreichbar werden – und dem Süden Wohlstand bringen.
Foto: Reuters / Tony Gentile

Canitello ist ein verträumter Ort, 3000 Einwohner, etwas herunter gekommen, wie meistens in Kala brien. Dennoch hat das Städtchen etwas Besonderes: Hier ist der "Stretto di Messina", die Meerenge von Messina, nur etwas mehr als drei Kilometer breit. Sizilien scheint zum Greifen nah. Und deshalb soll hier – und im gegenüberliegenden Torre Faro – das kühnste Brückenprojekt realisiert werden, das Ingenieure je erdacht haben: eine Hängebrücke, die Kalabrien mit Sizilien verbindet.

"Strategisches Projekt von nationaler Bedeutung"

Zumindest ist dies die erklärte Absicht der Regierung von Giorgia Meloni und ihres Ministers für In frastruktur, Matteo Salvini. Seit die Brücke als "strategisches Projekt von nationaler Bedeutung" gilt, redet man hier von fast nichts anderem. "Ich hoffe sehr, dass es diesmal klappt", sagt Sottilaro. "Mit der Brücke käme der Fortschritt zu uns." Scopelliti stimmt zu: "Der arme Süden Italiens braucht keine Almosen, sondern Arbeit."

Der "Ponte sullo Stretto": ein Superlativ. Mit einer Spannweite von 3,3 Kilometern zwischen zwei fast 400 Meter hohen Pfeilern wäre sie die längste Hängebrücke der Welt – dreimal länger als die Golden Gate Bridge in San Francisco und mehr als einen Kilometer länger als die aktuell längste Hängebrücke, die erst im März eingeweihte Çanakkale-1915-Brücke in der Türkei mit ihrer Spannweite von 2023 Metern. Die Tragseile hätten eine Länge von 5,3 Kilometern. Die Fahrbahn befände sich in einer Höhe von 70 Metern, damit auch noch die größten Schiffe passieren könnten. Eine – sehr ähnliche – Planungsvariante beträfe die Strecke zwischen Catona und Messina.

Die Brücke: ein Mythos. Hartnäckig hält sich die Legende, dass schon die Römer im dritten Jahrhundert vor Christus zwischen Reggio Calabria und Messina einen schwimmenden Steg aus Booten und leeren Fässern gebaut hatten. Beweise gibt es nicht; die starken Strömungen in der Meerenge sprechen dagegen, dass es sie je gegeben hat. Im 19. Jahrhundert träumte dann der Vorkämpfer der italienischen Einigung, Giuseppe Garibaldi, von einer Brücke an dieser Stelle.

Jahrzehntelanges Planen

Dann kam das verheerende Erdbeben von 1908, das bis zu 120.000 Menschen das Leben kostete. Wegen der Erdbebengefahr war der Brückentraum für ein halbes Jahrhundert erst mal ausgeträumt.

Dann, in den 1960er-Jahren, wurden doch erste Machbarkeitsstudien in Auftrag gegeben, 1981 erfolgte die Gründung der Betreibergesellschaft Stretto di Messina S.p.A., und 2005 verkündete Premier Silvio Berlusconi den Baubeginn für 2010. Der Spezialist für ebenso bombastische wie leere Versprechungen legte ein "definitives Bauprojekt" mit Kosten von damals 6,1 Milliarden Euro vor. 2009 lud Berlusconi die Medien mit großem Tamtam nach Canitello ein, für einen ersten Spatenstich.

Es war freilich nur eine Inszenierung, ein Bluff: Beim vermeintlichen Bahnzubringer handelte es sich um eine längst geplante Umfahrungsstrecke, die mit der Brücke nichts zu tun hatte. Schon sechs Jahre zuvor, 2003, war in Canitello ein anderer "erster Spatenstich" erfolgt, für die Verankerung der Tragseile. Die "Baustelle" ist heute verlassen und überwuchert.

2013 stoppte Berlusconis Nachfolger Mario Monti das Projekt: zu teuer, technisch zu kompliziert und angesichts der geringen Zeitersparnis für den Verkehr auch nicht wirklich vordringlich. Monti löste die Betreibergesellschaft kurzerhand auf.

Nun soll sie wieder "reaktiviert" werden – aber welche Chancen hat das Brückenprojekt, für das in den vergangenen 50 Jahren schon über eine Milliarde Euro für Studien und Abklärungen ausgegeben wurde?

"Ohne Wenn und Aber"

Zumindest die politische Konstellation erscheint günstig: Es stehen nicht nur alle Regierungsparteien hinter dem Projekt, sondern auch die lokalen und regionalen Behörden von Kalabrien und Sizilien – und zwar "ohne Wenn und Aber", wie der Präsident der Region Sizilien, Renato Schifani, betont.

Meloni hat das Brückenprojekt bereits in das Budget für 2023 aufgenommen, denn Italien soll im Rahmen des EU-Wiederaufbaufonds von Brüssel 191 Milliarden Euro erhalten. Die Brücke ist zwar nicht Teil der nationalen Projekte, die mit diesem Geld finanziert werden, aber die EU-Kommission signalisiert, dass die Brücke zumindest kofinanziert werden könnte.

Salvini zieht derweil Berlusconis uraltes "Vorprojekt" aus der Schublade: "Die Brücke ist sicher, modern und ökokompatibel. In sechs bis sieben Monaten kann mit dem Bau begonnen werden."

"Ein Witz, den sie uns alle paar Jahre erzählen"

Wirklich? "Dass die Brücke gebaut wird, ist ein Witz, den sie uns alle paar Jahre erzählen", erklärt Alberto Ziparo aus Reggio Calabria. Er ist Ingenieur und Professor für Verkehrsplanung und Urbanistik. Es gebe zwar Machbarkeitsstudien – aber noch nie sei ein konkretes Ausführungsprojekt vorgelegt worden. Kein Zufall: Erst anhand einer solchen konkreten Planung wäre ersichtlich, wie statische, strukturelle und dynamische Probleme konkret gelöst werden könnten.

Mindestens ein Dutzend dieser Probleme sei beim heutigen Stand der Baukunst und der Baustoffe "unüberwindbar", betont Ziparo. Etwa jenes der durch den Wind verursachten seitlichen und vertikalen Pendelbewegungen: Über der oft stürmischen Meerenge werden Windgeschwindigkeiten von bis zu 200 Stundenkilometern gemessen. Auch das enorme Gewicht der Konstruktion werde in den Studien immer wieder vernachlässigt.

Die Einwände Ziparos werden von namhaften Ingenieuren geteilt; andere halten die Probleme dagegen für lösbar. Wer recht hat, wird man erst wissen, wenn einmal das Ausführungsprojekt vorliegen wird – oder eben nicht.

Bessere Zukunft?

Wie auch immer: Für viele Menschen in Kalabrien und Sizilien wäre die Brücke viel mehr als bloß eine feste Verbindung zwischen dem Festland und der Insel. "Meine beiden Söhne sind nach London und nach Mantua ausgewandert, weil sie hier keine Jobchancen hatten", sagt Hobbyangler Sottilaro. Wären sie in der Lombardei geboren, wäre das nicht nötig gewesen – da gebe es Bildungsmöglichkeiten und Arbeit im Überfluss. "Ist das gerecht? Geht es einem Land gut, wenn es den Regionen im Süden so schlecht geht? Wir sind doch auch Italiener!"

Die Brücke würde auch noch ein anderes Signal aussenden: Auch im Süden können sie Großes leisten, da gibt es nicht nur Armut und Mafia! Deshalb hofft Sottilaro, den Tag noch erleben zu dürfen, an dem sich tatsächlich eine Brücke von Canitello nach Torre Faro spannen wird. Eine Brücke nach Sizilien – und in eine bessere Zukunft. (Dominik Straub aus Canitello, 29.12.2022)