Mit Workshops will der Verein AFYA frühzeitig und niederschwellig Hilfe anbieten. Psychotherapieplätze sind nämlich rar: Bei Hemayat warten derzeit 400 Flüchtlinge auf einen.

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Vor sieben Jahren war es Jamila* egal, ob sie die Nacht überlebt. Es war Oktober 2014, als die damals schwangere 27-jährige allein aus ihrem Land flüchtete – und dabei ihre drei Kinder zurückließ. Zuvor habe sie keinen Tag ohne sie verbracht. Den Grund für ihre Flucht will Jamila, die auch ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen will, nicht nennen, nur so viel: Sie musste weg und das schnell. Zuerst nach Äthiopien, dann in den Sudan, dann nach Libyen, wo es am schlimmsten gewesen sei. "Ich hatte Glück. Mit anderen Frauen haben wir uns gegenseitig vor Übergriffen der Schlepper beschützt." Nicht bei allen sei das gelungen.

Auf der fast einmonatigen Flucht habe sie nicht mehr als eine Stunde pro Tag geschlafen. Dann sei die Nacht gekommen, in der sie die Überfahrt gewagt habe. Etwa 92 Menschen seien gegen Mitternacht zum Hafen zitiert und anschließend in ein "Plastikboot" gepfercht worden. Doch Angst habe Jamila auch während der mehr als zwölfstündigen Überfahrt nach Italien keine gehabt, erzählt sie. "Es war mir zu dem Zeitpunkt egal, ob ich sterbe."

Erst in Österreich, wo sie von der Polizei registriert und einem Flüchtlingsheim in Linz zugewiesen wurde, sei die Müdigkeit gekommen. Und dann der Stress im Kopf. Alles sei hochgekommen.

Jeder dritte Flüchtling mit Trauma

Heute, sieben Jahre später, ist Jamila auf Besuch beim Verein AFYA, der Gesundheitskurse und Traumabewältigung für Flüchtlinge anbietet. Neben ihr sitzt der Syrer Abdalla Mohammad und die Somalierin Faisa Mohamed Jama. Beide bieten Workshops an und kennen Jamila schon seit Jahren. Die psychischen Probleme, die Jamila über Jahre belastet haben, betreffen viele Flüchtlinge, sagt Jama. Offizielle Zahlen gibt es keine. Laut Schätzungen soll aber jeder dritte Flüchtling an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Was die meisten dabei eint: "Erst wenn man aus diesem Überlebenskampf rauskommt und in Sicherheit ist, kommt das Trauma hoch", sagt Mohammad, der am heutigen Tag aushilft, wenn Jamila trotz guter Deutschkenntnisse ins Stocken gerät.

Die ersten Jahre kämpfte sich Jamila ohne externe Hilfe durch. Ein Umstand wog bei ihr, ab 2015 dann alleine mit ihrem Neugeborenen, besonders schwer: die Trennung von ihren drei Kindern. "Eines Tages war ich im Supermarkt und hörte ein Kind weinen. Ich war überzeugt, dass es meine Tochter war." Doch es vergingen noch drei Jahre, bis sie ihre Kinder 2018 durch die Familienzusammenführung zu sich holen konnte. "Da dachte ich, dass ich jetzt nichts mehr brauchen würde, jetzt, wo meine Kinder endlich bei mir waren.'' Aber die Probleme hätten sie nicht losgelassen, der Stress und die ständige Nervosität. Sie dockte bei AFYA an.

Mangel an Angeboten

Es war der Mangel an Hilfsangeboten, der 2018 zur Gründung des Vereins führte. Egal ob nun bei Gesundheitskursen oder Anti-Gewalt-Workshops für Jugendliche: "Es geht darum, Menschen früher zu erreichen, um schweren Traumafolgestörungen vorzubeugen– und das niederschwellig", erklärt Obfrau Sabine Kampmüller. In Summe 23 Trainerinnen und Trainer, teils ehemalige Flüchtlinge, sind dafür im Einsatz. Dabei sei der interkulturelle Aspekt essenziell: Fast alle Workshops werden in den Muttersprachen der Teilnehmenden gehalten. Neun Sprachen – darunter Farsi, Arabisch und Somali – können so abgedeckt werden.

Personen, die eine Therapie benötigen, leite man an den Verein Hemayat, der Psychotherapie für Überlebende von Krieg und Folter anbietet, weiter. Doch dort präsentiert sich das gleiche verheerende Bild wie auch in der allgemeinen psychosozialen Versorgung in Österreich: Es gibt keine freien Plätze. "Derzeit warten 400 Menschen, die alle dringend einen Therapieplatz benötigen", sagt Sprecherin Alexia Gerhardus.

Eine "schnelle Hilfe" im niederschwelligen Bereich sei daher wichtig. "Aus der Traumaforschung ist hinlänglich bekannt, wie wichtig eine rasche professionelle psychische Ersthilfe ist, aber auch eine respektvolle Begegnung, ein stützender Arm oder eine gereichte Decke", sagt Gerhardus.

Emotionen im Griff haben

Diese Unterstützung habe sie bei AFYA gefunden, sagt Jamila. Aus dem Gesundheitskreis habe sie viel Wissen mitnehmen können – und sich dabei besser kennengelernt. Was das Aufarbeiten der Geschehnisse für sie erleichtert habe? "Ich konnte mich in meiner Muttersprache austauschen. In meinem kulturellen Kontext aufgefangen zu werden hat alles leichter gemacht."

Der letzte Kurs, den sie absolvierte, war "Stark ohne Gewalt" , ein Kurs, der im Rahmen des "Reset"-Projekts der Asylkoordination auf Präventionsarbeit setzt – um bei Gewalt und Extremismus vorzubeugen. Die Zielgruppe sind Schulkinder und junge Erwachsene. Warum sie den Kurs gemacht hat? "Ich habe gemerkt, dass es wichtig für mich ist, Gefühle wie Wut besser zu kontrollieren – und Nein sagen zu lernen." Und auch dieser Kurs dürfte nicht der letzte gewesen sein: "Ich konnte schon so viel lernen. Ich will noch mehr davon." (Elisa Tomaselli, 30.12.2022)