Der gewalttätige Versuch, das Jugendamt daran zu hindern, seine kleine Schwester aus der Schule in eine Betreuungseinrichtung zu bringen, brachte einen 14-Jährigen vor das Strafgericht.

Foto: Regine Hendrich

Wien – Für Richterin Alexandra Skrdla endet das Arbeitsjahr 2022 mit einem überraschenden medizinischen Gutachten – das der Sachverständige Christian Reiter über den Gesundheitszustand eines 51-jährigen Schulwarts erstellt hat, der vom 14 Jahre alten Angeklagten A. im September schwer verletzt worden sein soll. Als der Teenager seiner kleinen Schwester beistehen wollte, wie er am ersten Verhandlungstag erklärt hatte.

Der Hintergrund der Geschichte ist betrüblich. Der junge Syrer stammt aus einem schwierigen familiären Umfeld, das Jugendamt hat den Unbescholtenen deshalb in einer Betreuungseinrichtung untergebracht. Wo es ihm nicht sonderlich gut gefiel. Als die Familie erfuhr, dass auch die Schwester in die Obhut des Staates kommen sollte, wollten A. und seine Mutter das verhindern.

Schulwart versperrte Eingangstür

Der Plan der beiden: Sie wollten das Mädchen aus ihrer Schule abholen und so dem Zugriff der Behörden entziehen – was das selten angeklagte Delikt der Vereitelung behördlich angeordneter Erziehungshilfen darstellt. Die Verantwortlichen bekamen davon Wind und wiesen Herrn B., den Schulwart, an, die Eingangstür zu versperren, um schulfremden Personen den Zutritt zu verwehren.

Die Idee war gut, der gewünschte Erfolg trat dennoch nicht ein – denn die Eingangstüren waren nicht aus massivem Holz, sondern aus Glas. A. zertrümmerte sie mit einem Stein (Anklagepunkte Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch) und gelangte so ins Gebäude. Als sich ihm der 51-Jährige in den Weg stellte, zückte der 14-Jährige einen Elektroschocker und forderte den 51-Jährigen auf, aus dem Weg zu gehen – womit auch der Tatbestand der versuchten Nötigung erfüllt war.

Bis hierher war A. am ersten Verhandlungstag auch geständig. Er habe seiner Schwester helfen wollen und sei in einem Ausnahmezustand gewesen, erklärte der eher schmächtige Angeklagte. Einen Faustschlag gegen die Brust habe er dem Schulwart aber nicht versetzt, beteuerte A., er habe ihn nur zur Seite gedrückt.

Seit Wochen im Krankenstand

Der 51-Jährige erzählte als Zeuge eine viel dramatischere Geschichte. Der wütende 14-Jährige habe ihm einen massiven Schlag "gegen den Thorax versetzt. Thorax steht bei mir im Befund drinnen. Dabei ist ein Knochen gebrochen", schilderte er. Seit Mitte September sei er deshalb im Krankenstand, die Ärzte hätten ihm gesagt, dass es sechs bis zwölf Wochen dauere, bis der Bruch wieder verheilt sei. Noch habe er wegen des Angriffs Schmerzen, hielt der Schuldbedienstete, der kein Schmerzengeld forderte, noch fest.

Da sich durch diesen Befund die angeklagte Körperverletzung in eine strenger bestrafte schwere Körperverletzung verwandeln würde, vertagte Richterin Skrdla am ersten Prozesstag und beauftragte Experten Reiter damit, ein gerichtliches Gutachten über die Verletzung des Schulwarts zu erstellen.

Die Expertise ist durchaus erhellend. In einem Telefonat erzählte der Verletzte Reiter, er habe bereits unmittelbar nach dem Schlag Atemprobleme bekommen und eine sichtbare Schwellung im Bereich der Brustbeinspitze festgestellt. Rund siebeneinhalb Stunden später, als der Schulwart ins Unfallkrankenhaus fuhr, vermerkte der behandelnde Arzt letztere im Befund nicht mehr. Dafür Schmerzen im rechten Brustbereich, wo der Zeuge laut eigenen Angaben aber gar nicht getroffen wurde. Auf einer frischen Röntgenaufnahme meinte der Spitalsarzt einen Sprung in einer Rippe feststellen zu können.

Keine Hinweise auf Verletzung

Gutachter Reiter merkt vor Gericht an, dass wie üblich in einem Unfallkrankenhaus die Röntgenbilder später von einem Radiologen nochmals begutachtet würden. Auch dessen Befund holte er sich für das Gutachten – der Röntgenfacharzt fand keinen Hinweis auf einen frischen verschobenen Bruch, einen "Sprung" im Knochen erwähnt er nicht. "Das geht ein bisschen nach dem Grundsatz, dass eine Krähe der anderen kein Auge aushackt", merkt Reiter dazu an. Er selbst habe bei Betrachtung der Röntgenbilder nämlich weder Hinweise auf einen Bruch noch einen Sprung gefunden.

Zufrieden gab sich der Gutachter damit nicht. Er kontaktierte nochmals den Schulwart und fragte, ob sich bei der berichteten Schwellung später ein Bluterguss gebildet habe. Das wäre nämlich ein Symptom, das bei einer Knochenverletzung auftritt. Der 51-Jährige verneinte. Auch eine Magnetresonanztomografie, um eventuelle Weichteilverletzungen aufspüren zu können, sei nicht gemacht worden. Sein Lungenfacharzt habe ihm aber eine Überweisung zu einer Computertomografie geschrieben – die er ebenso nicht durchführen ließ.

Gutachter als "Medical Detective"

"Medical Detective" Reiter folgte auch dieser Spur und setzte sich mit dem Lungenfacharzt in Verbindung. Der hatte den Rippenbruch bei der Anamnese einfach aus dem Befund des Unfallkrankenhauses übernommen, verriet dafür ein anderes interessantes Detail. Der Schulwart leide seit längerem unter schwerem Asthma, was in diesem Beruf nicht ungewöhnlich sei.

Zusammenfassend kommt Reiter in seinem Gutachten also zu einem eindeutigen Ergebnis: "Es finden sich keine Beweise für eine Traumatisierung des Brustbeins, der fortdauernde Krankenstand steht nicht mit einem Schlag in Zusammenhang", hält er klar fest. Die Staatsanwältin überlässt daher in ihrem Schlussplädoyer naheliegenderweise der Richterin die Bewertung, ob A. überhaupt eine Körperverletzung begangen hat.

Verteidiger Thomas Preclik hält am Ende dagegen fest, dass Reiters Gutachten eindeutig die Version seines minderjährigen Mandanten stütze. "Er wollte seine Schwester vor der Akutabnahme retten und war in einem Ausnahmezustand", ist auch er überzeugt. Zu den übrigen Anklagepunkten habe sich der Teenager reumütig geständig gezeigt, auch die Bewährungshilfe und seine Schule hätten ihm ein gutes Zeugnis ausgestellt, weshalb eine milde Strafe angebracht sei, argumentiert Preclik.

Vier Monate bedingte Haft

Vom Vorwurf der Körperverletzung spricht Skrdla den Angeklagten dann frei. Für die anderen Delikte wird er nach dem Strafsatz für Widerstand gegen die Staatsgewalt – A. hatte sich im September vor der Schule gegen die alarmierten Polizisten gewehrt – rechtskräftig zu vier Monaten bedingter Haft verurteilt. Die bereits angeordnete Bewährungshilfe muss er weiter in Anspruch nehmen. "Es gibt in Ihrer Familie dafür noch Bedarf. Die Bewährungshilfe ist eine Chance für Sie, aber auch eine Pflicht. Sie müssen dort hingehen, das ist wichtig, die Berichte bekomme ich. Und wenn Sie das nicht machen, kann es sein, dass Sie die vier Monate ins Gefängnis müssen", schärft die Richterin dem Jugendlichen noch ein.

Der verspricht das und verlässt mit seinem Verteidiger und einer Betreuerin den Saal. Seine Aktion im September blieb übrigens erfolglos – die Behördenvertreter waren bereits vor ihm in der Schule und hatten das Mädchen in einem Raum vor A. versteckt, ehe das Kind fremduntergebracht wurde. (Michael Möseneder, 29.12.2022)