Gletscher und Eisberge schmelzen, der Meeresspiegel steigt, uns steht das Wasser bis zum Hals.

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Wieder haben wir ein Jahr hinter uns gebracht. Mit den Goldenen Zwanzigern hatte es ähnlich wenig zu tun wie die beiden zuvor. Eher sind es die Dystopischen Zwanziger, in denen wir feststecken. Die Pandemie ist noch nicht überwunden, schon wird "Inflation" zum Wort des Jahres gekürt. Auch das offizielle Unwort des Jahres hat nichts mehr mit dem Virus zu tun. In den Jahren zuvor lautete es "Querdenker" und "Coronaparty", heute ist es "Energiekrise". Mir persönlich hätte "Beinschab-Tool" besser gefallen, aber bis zu den Hinterwäldlern hat sich herumgesprochen: Wir, die Bevölkerung des Planeten Erde, acht Milliarden aufs eigene Wohlergehen bedachte Menschenkinder, haben uns in einer Gemengelage multipler Krisen eingefunden. Klimakollaps, Energieknappheit, Hunger, Corona, Teuerung, Kriege, Konflikte, Flüchtlinge, wirtschaftliche Engpässe, Korruption, beschädigte Demokratien, die Finger einer Hand reichen nicht aus, nur die schwersten Verwerfungen aufzuzählen, mit denen wir zu tun haben. Ist das Zufall, Pech? Sind wir verflucht, oder ist es unser multiples Versagen?

Gigantischer Waffenindustrien, draufgängerische Schuldenpolitik

Was sich vor uns auftürmt, erkennen wir teils mehr, teils weniger als eigenes Verschulden an. Anstatt die Ursachen klären, neigen wir jedoch dazu, lediglich den größten Dreck aus dem Weg zu karren. Manchen der Krisen meinen wir, mit Kosmetik beikommen zu können, anderen auf rustikale Weise, mithilfe gigantischer Waffenindustrien oder durch draufgängerische Schuldenpolitik. Kriege werden geführt, die aus vergangenen Jahrhunderten stammen könnten. In dieser Hinsicht scheinen wir Einsteins Voraussagung bestätigen zu wollen, der meinte, dass er zwar nicht wisse, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgetragen, aber dass der Vierte wieder mit Steinen und Stöcken ausgetragen werden würde. Andere Problemfelder wie der seit Corona eminente Gesundheitsnotstand geraten in den Hintergrund. Diesen Herbst wurde in vielen österreichischen Bundesländern der Preis für die Grippeimpfung, anstatt sie kostenlos anzubieten, sogar bis zur Abschreckung erhöht. Das, weswegen der Staat vor kurzem noch die Gesellschaft zusperrte, wird nun als Privatsache eingestuft. Denn es gibt Wichtigeres zu tun.

Die Energie, die wir in Unmengen verbrauchen, muss irgendwo beschafft werden, mit einem Mal nicht mehr aus Russland, das freilich schon seit etlichen Jahren ein kriegführender und Völkerrechte ignorierender Schurkenstaat ist, sondern von irgendeinem anderen autoritären menschenverachtenden Regime, Saudi-Arabien oder Katar etwa. Es wird einerseits unmoralisch gehandelt, damit andererseits moralisch gehandelt werden könne. Mördern werden die Hände geschüttelt, damit sie anderen Mördern nicht mehr geschüttelt werden müssen. Wie willkürlich der Westen mit seinen oft zitierten Werten agiert, zeigt sich auch in der Ungleichbehandlung von Kriegsflüchtlingen, europäische werden eingeladen, afrikanische ausgesperrt. Denn ja, auch die Migrationsbewegungen nehmen wieder zu. Ist es ein Wunder? Irgendwo müssen die Menschen ja hin, die das Pech hatten, in eine der geschundenen und ausgebluteten Regionen der Welt hineingeboren worden zu sein. Bei diesem moralisch-politischen Dilemma greifen von jeher alle Lösungsansätze ins Leere, die gut wie schlecht gemeinten, und fatalerweise tun sie es bei der sich immer deutlicher manifestierenden Klimakatastrophe ebenso. In die Atmosphäre können wir keine Marder-Panzer und Abwehrraketen schicken, wie viele Billionen Dollar dies auch kosten möge, um den Feind zurückzuschlagen und Fehler zu kaschieren, die wir seit Jahrzehnten machten.

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Die zur Schau getragene Entschlossenheit und Souveränität der Politik gerät spätestens an diesem Punkt ins Stocken. Leider müssten die Regierungen aber genau in dieser alles entscheidenden Frage – Wie stoppen wir den Klimawandel? – endlich zügig und mutig handeln. Angesichts Corona wurde aufgeregt mit diversen Lockdown-Varianten experimentiert, angesichts des Klimas aber sehen wir zu, wie die Treibhausgasemissionen nach wie vor steigen statt sinken, und Kohle-, Atomkraft oder Fracking erleben eine Renaissance. Was ist los mit uns? Ist nicht nur Putin, sind wir alle wahnsinnig geworden?

Am Rande dieses Wahns, an dem die Menschheit derzeit unmissverständlich steht, verhält es sich so: Wir sehen vor lauter Notfällen den eigentlichen Notfall nicht. Von Panik, Wut und Frust ergriffen, wägen wir die Prioritäten der einzelnen Krisen gegeneinander ab, greifen mal vollmundig hier, dann halbherzig dort ein, erregen uns fürchterlich und vergessen ein paar Tage später, worüber wir uns echauffierten, wir geben uns mal undefinierten, mal ganz konkreten Zukunftsängsten hin, aber dass alles miteinander zusammenhängt und wir diese Krisen nur lösen können, wenn wir ihr eigentliches Grundproblem anpacken, blenden, obwohl es praktisch alle wissen, praktisch alle aus. Nach wie vor liegt es uns näher, mit notdürftigen Schadensbegrenzungen das Ordnungssystem am Laufen zu halten, das die gesamte Welt an den Abgrund bringt, als dieses System von Grund auf zu hinterfragen.

Angesichts der Klimakatastrophe plädiert Platzgumer für ein schrankenloses Nachdenken über systematische Veränderungen.
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Sind wir wahnsinnig geworden?

Ich muss kein promovierter Ökonom sein, um zu erkennen, dass wir den sich verselbstständigt habenden Turbokapitalismus überwinden müssen, wollen wir eine andere Zukunft haben außer Krieg, Flucht, Verseuchung und Zerstörung. Alternativlos haben wir uns seit Jahrzehnten der kapitalistischen Idee ausgeliefert. Einst gab es Gegenmodelle, die aber sind in sich zusammengebrochen oder von ihr vereinnahmt, aufgefressen worden. Zu Beginn war der Kapitalismus Verheißung, ja Wohlstandsvermehrer, inzwischen beweist er sich als allmächtiger Zerstörer, der unser Denken, unsere soziale Kompetenz und damit nichts weniger als den gesamten Planeten ruiniert. Der wirtschaftliche Wettkampf mag irgendwann motivierend, anspornend gewesen sein und mag uns mit Ideen beflügelt haben, wie wir zu immer größerem Reichtum kommen können. Angetrieben vom technologischen Fortschritt aber ist dieser ungezügelte Kapitalismus, der nur den Profit, nur eine Richtung und Maxime kennt, die des möglichst raschen und gewaltigen Wachstums, uns enteilt und entglitten. Er stellt einige wenige Gewinner einer solchen Masse von Verlieren gegenüber, reißt die Schere zwischen Arm und Reich auf derart perverse Weise auf, dass nichts anderes mehr möglich scheint, als das, was wir heute allerorts beobachten: ein Sich-Abschotten einer- und Aufbegehren andererseits, Zynismus hier, Verzweiflung dort, ein Sich-Rüsten zum Endkampf, ein verbissenes Gerangel um die letzten Plätze im vermeintlichen Refugium, wenn endgültig alles in die Luft fliegt. Ich kann mir kein System ausmalen, das Habgier, Neid und Ungerechtigkeit ähnlich hemmungslos befördert wie der Kamikaze-Kapitalismus, dem wir uns verschrieben und über den wir die Kontrolle verloren haben. Er bringt alles zu Fall, über kurz oder lang rein logisch auch sich selbst, dennoch ketten wir uns an ihn, als wäre es ein Naturgesetz.

Es fehlen Mut und Fantasie

Es fällt nicht nur mir, sondern fast allen schwer, nach Generationen unter diesem Regime ein gänzlich anderes zu ersinnen, das rechtzeitig an seine Stelle gerückt werden könnte. Wir meinen, keine Alternative zu haben. Wie soll ich auch ein System austauschen, dessen Teil ich durch und durch bin? Da wir die Exzesse der Verkapitalisierung unserer Welt so lange einfach hingenommen haben, fehlt es uns jetzt an beidem: an der Zeit, in der wir noch den Absprung schaffen, wie an einem Ort, an den wir abspringen könnten. Auch fehlt uns der Mut zur Veränderung und vor allem die Fantasie. Sie ist es, was wir am dringendsten zurückgewinnen müssen. Unser Vorstellungsvermögen hat gelitten unter den Scheuklappen der Profitmaximierung der letzten Jahrzehnte. Der liberale Kapitalismus ist als einzige Option in unser Denken eingebrannt. Nun aber müssen wir erkennen, dass diese Option keine Option, sondern der Untergang ist. Wir sind in scheinbarer Ausweglosigkeit angelangt.

Womöglich aber besteht die letzte Chance, die wir verspielt zu haben scheinen, nach wie vor? Vielleicht müssen wir bloß die Perspektive ändern, um dann besser sehen zu können? Alles ist immer eine Frage der Perspektive. Heute ist die Sicht verstellt, morgen vielleicht nicht? Bereits heute wagen immer mehr Menschen, zumindest zaghaft nachzuschauen, was in den unendlichen Weiten der menschlichen Vorstellungskraft zu finden ist. Dort – das ist die gute Nachricht – ist schließlich alles möglich, nicht bloß Dysto-, sondern auch Utopien. Ich kann versuchen, die Bilder der weitgehend zerstörten Welt, die unsere Gegenwart dominieren, mit Bildern auszutauschen, von denen ich mich nicht abgestoßen, sondern zu denen ich mich hingezogen fühle. Nur so habe ich überhaupt eine Chance, motiviert zu werden, den Hintern hochzukriegen und dorthin aufzubrechen, wo die Dinge besser funktionieren könnten als im Hier und Jetzt. Allein wenn ich beginne, genauer hinzuschauen, weg von den Verwüstungen, hin zu den Visionen, erkenne ich bereits eine Vielzahl von bestehenden Ansätzen. Ich muss kein weltfremder Spintisierer sein, um mir Dinge wie Degrowth oder eine Gemeinwohlökonomie vorstellen zu können, eine Verzichts- statt einer Überflussgesellschaft, ein Verteilen statt Ausbeuten, eine wahre Zufriedenheit anstatt aufgezwungener Impulsbefriedigung, einen freiwilligen Rückzug der Konsumgesellschaft anstatt ihres grausamen Untergangs. Es existieren genügend Initiativen, denen sich jeder und jede anschließen kann. Und setze ich ein offenes Nachdenken über systematische Veränderungen im Kleinen wie im Großen in Gang, entsteht in meinem Kopf vielleicht noch etwas ganz anderes, bislang Unerhörtes? Genau das braucht die Welt: konstruktive Kreative. Beginnen wir doch alle, vom Politiker bis zur Künstlerin, von der Wissenschaftlerin zum Nachtschichtarbeiter, augenblicklich und schrankenlos darüber nachzudenken, wie wir eine andere Welt gestalten könnten, anstatt vor unserer Nemesis zu erstarren.

Acht Milliarden Menschenhirne. Es ist kaum denkbar, dass dabei nicht etwas Kons truktives herauskommt. Eine Welt, wie sie eines Tages wieder repariert sein, wieder funktionieren könnte. In solch weiter Ferne dies momentan scheint, in unseren Köpfen ist Platz dafür. In meinem Kopf, einem der acht Milliarden. Wenigstens will ich versucht haben, dort Platz freizuschaufeln und den Müll, der unablässig auf uns niederprasselt, beiseitezuschieben.

Praktisch alles dient der Spekulation

Ich stelle mir beispielsweise ein entkommerzialisiertes Internet, stark eingeschränkten Individualverkehr oder eine Welt ohne Immobilienspekulation vor. Das Betongold ist ein typischer Auswuchs des heutigen Kapitalismus. Es zerstört alles, Grund und Boden und Existenzen, nur damit Reiche, die nicht wissen, wo sie ihr Geld parken sollen, sinnlos reicher werden. Wohnungen wären eigentlich dazu da, damit Menschen darin wohnen können, dieser ursprüngliche Sinn ist aber schon so lange vom Wirtschaftssystem, in dem wir festsitzen, pervertiert worden, dass es nicht nur legitim ist, sondern uns sogar normal vorkommt, das dem nicht so ist. Praktisch alles, was uns umgibt, dient der Spekulation, der möglichen Bereicherung jemandes, der sich diese Bereicherung leisten kann und sie somit gar nicht notwendig hätte. Derartige Absurditäten erscheinen uns heute als selbstverständlich. Aus rein das System selbsterhalterischen Gründen nehmen jene, die von vornherein mit Grundkapital ausgestattet sind, Dinge, die sie gar nicht brauchen, jenen weg, die darauf angewiesen wären. Besitznahme da, Verunmöglichung dort, so entsteht die Schieflage der Welt.

Wenn wir frisch und unvoreingenommen zu denken wagen, mit dem nötigen Grad an Naivität, dem nötigen bisschen Hoffnung, wenn wir den Status quo nicht als fixe Größe, sondern als veränderbar betrachten, erst dann kann sich ein neuer Ideenraum öffnen. Warum muss beispielsweise Weizen, wenn er durch Krieg und Dürren schon in geringerem Ausmaß vorhanden ist, automatisch auch noch teurer, unerschwinglich für die Hungernden werden? Warum dient der afrikanische Boden nicht mehr der Herstellung von Lebensmitteln für die Menschen vor Ort, sondern von Ramschprodukten für die Industrienationen?

Von Menschen erschaffen

Wir tun, als wären die globalisierten Marktlogiken naturgegeben, unabänderlich. Doch das sind sie nicht, sie sind künstlich erschaffen, von Menschen erschaffen. Es müsste für Menschen möglich sein, sie wieder abzuschaffen. Fühlen wir uns den kapitalistischen Grundregeln gegenüber nicht mündig genug, sie anzutasten? Kommen sie uns mächtiger vor, als wir uns selbst? Der neoliberalistische Glaube an den Markt, der sich selber reguliert, ist dermaßen in unserem Bewusstsein verankert, dass wir uns nichts anderes vorzustellen wagen, selbst wenn wir sehen, wie falsch alles geworden ist. Politiker sprechen davon, Putins Geldhähne abdrehen zu müssen, mit denen er seinen Krieg finanziert. Niemand aber denkt auch nur daran, den Börsen- und Aktienhandel grundsätzlich abzudrehen, obwohl genau das der Ort ist, über den der Terror finanziert wird.

Hans Platzgumer, geb. 1969 in Innsbruck, ist österreichischer Schriftsteller, Musiker und Komponist. Zuletzt erschien von ihm "Bogners Abgang" 2021 im Zsolnay-Verlag.
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Zumindest schrittweise hätte nicht erst seit 2008 daran gearbeitet werden müssen, ihn unter Kontrolle zu bringen. Warten wir lieber auf den nächsten Crash? Können wir immer nur im Augenblick der Katastrophe reagie ren, erst dann den Notkitt herauskramen, sofern wir welchen haben? Ist der Homo sapiens nichts als ein Homo reagens geworden? Wollen wir das System, das unser Damoklesschwert ist, bis zum Äußersten erhalten, statt unsere Lebensweise und Sicht auf die Welt vorausschauend anzupassen? Ich will es nicht glauben. Zumindest will ich nicht bis an mein Lebensende Teil des dumpfen Systemerhalts sein und Anteil nehmen müssen an der Vernichtung der Welt. Ich halte es mit Greta Thunberg, ich weiß nicht, wie es aussieht, das neue Ordnungssystem, das die Welt zusammenhält anstatt sie auseinanderzureißen, aber ich muss versuchen, mich ihm zu nähern. Mich dem Unbekannten zu nähern heißt, mich vom Bekannten zu entfernen. Einen anderen Weg als den ausgetretenen zu betreten. Das ist zwingend notwendig. Denn der, den wir bislang gegangen sind, stellte sich als katastrophaler Irrweg heraus. (Hans Platzgumer, 30.12.2022)