Wer sich mit Feminismus und psychischen Erkrankungen beschäftigt, der kommt an Beatrice Frasl kaum vorbei: In ihrem Podcast Große Töchter – der feministische Podcast für Österreich bearbeitet sie gesellschaftspolitische Themen, als @fraufrasl twittert sie vornehmlich über mentale Gesundheit aus feministischer Perspektive. Mit Patriarchale Belastungsstörung. Geschlecht, Klasse und Psyche hat sie im Haymon-Verlag nun ein fast 400 Seiten starkes Sachbuch vorgelegt, dessen Inhalte zumindest für am Thema interessierte Menschen teils nicht mehr neu – in ihrer Fülle aber trotzdem eines sind: erschreckend.

Es schockiert, so geballt und mit Zahlen untermauert vorgelegt zu bekommen, wie wenig gerade in Österreich für psychische Gesundheit getan wird. Wie sehr psychische Erkrankungen mit gesellschaftlichen und ökonomischen Faktoren ebenso wie mit dem Faktor Geschlecht verknüpft sind. Und vor allem: wie wenig gegen (soziale, geschlechtsspezifische) Ungleichheiten unternommen wird, wo die Folgen für die (mentale) Gesundheit doch belegt sind – ebenso wie die volkswirtschaftlichen Schäden, die psychische Erkrankungen hervorrufen.

Es sind zahlreiche Schieflagen, die Frasl auflistet, und naturgemäß lässt sich bei einem so großen Feld wie dem der mentalen Gesundheit schwer klar abgrenzen. Immerhin, schreibt Frasl, wurde bereits 2006 in einer Metastudie die Wahrscheinlichkeit von Europäerinnen – sie verwendet konsequent die weibliche Form, Männer sind mitgemeint –, im Laufe des Lebens psychisch zu erkranken, mit 50 Prozent festgesetzt. Die Fahrt aufnehmende Klimakrise, Corona, Krieg und Inflation haben die Aussichten wohl kaum verbessert. Drei Bereiche hebt Frasl hervor: Da ist zum einen die sensationell schlechte Versorgung in Österreich, die nicht vom Himmel gefallen, sondern schlicht strukturell ist. Psychotherapie-Plätze sind kontingentiert und schwer zu kriegen. Menschen in akuten Krisen haben entweder genug Geld, um ihre Therapie selbst zu bezahlen. Oder Pech gehabt.

Gewaltige Kosten

Frasl beschreibt ihre eigene, verzweifelte Suche nach einem Therapieplatz. Und sie verweist darauf, dass nicht oder zu spät behandelte psychische Erkrankungen nicht nur Leben kosten, sondern Geld: die österreichische Volkswirtschaft im Jahr 2014 laut OECD-Bericht elf Milliarden Euro. Da kann man sich schon mal verwundert die Augen reiben und fragen, wieso denn nicht mehr getan wird.

Ein Grund mag sein, dass (und das ist Frasls zweiter großer Punkt) psychische Krankheit (vulgo Verrücktheit) halt gerne mit Frau-Sein verknüpft wird. Frasl nennt es "die ältesten Beschwerden der Welt – die Diagnose Frau", widmet sich ausführlich der Geschichte des Krankheitsbildes "Hysterie", aber eben auch den strukturellen, politischen und sozialen Hintergründen: angefangen beim berüchtigten Gender-Pay-Gap, der eine solche Naturgewalt zu sein scheint, dass offenbar niemand in der Lage ist, ihn zu bezwingen, bis hin zur ungleichen Aufteilung von Frei- und (Sorge-)Arbeitszeit.

Wenn man sich das in der von Frasl aufgezählten Geballtheit zu Gemüte führt, fragt man sich eher, wie manche Frauen und vor allem Mütter es schaffen, nicht depressiv zu werden. Dazu passen vielzitierte Studien, die verkürzt gesagt zeigen, dass die Institution Ehe Männer psychisch gesünder, Frauen psychisch ungesünder macht. "Paarbeziehungen und die Dynamiken in ihnen sind nicht nur ein Faktor in der Entstehung von Depressionen, ein Zusammenhang wurde auch bezüglich Schizophrenie, Anorexie, Angsterkrankungen und Borderline-Persönlichkeitsstörung beschrieben. Ehen mit Männern sind also für Frauen Risikofaktoren in Bezug auf die Entwicklung psychischer Erkrankungen."

Beatrice Frasl,
"Patriarchale Belastungsstörung. Geschlecht, Klasse und Psyche"
€ 19,90 / 384 Seiten
Haymon-Verlag, Innsbruck 2022

Obwohl die psychischen Erkrankungen (nicht nur) von Frauen also meist auch eine Ursache im sozialen Umfeld haben, in leider gar nicht so seltenen Extremfällen gar Bewältigungsstrategien für Gewalt- oder Missbrauchserfahrungen sind, so ein weiterer Kritikpunkt Frasls, wird aber immer noch häufig an einem Narrativ festgehalten, das besagt, dass psychische Krankheit spontan aus dem Individuum entstehe und halt biologische Ursachen hätte, man also nur eine Pille schlucken müsse.

Zu viele Psychopharmaka

Die inflationäre Gabe von Psychopharmaka stellt Frasl genauso infrage wie die gleichzeitige gewollte Verknappung von Psychotherapie-Plätzen und die Verschleierung gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer (also: nichtbiologischer) Zusammenhänge. Entsprechend viele Punkte finden sich dann im Kapitel "Was können wir tun?": neben besserer Versorgung auch sozialer Ausgleich, Bildung und Information sowie ein psychiatrischer Paradigmenwechsel – kurz gesagt: mehr Therapie, weniger Chemie. Trotz der leider oft wenig zugänglichen Sprache, die sicher einen großen, nicht akademisch-gebildeten Leserinnenkreis ausschließt, ein wichtiges Buch, dessen Lektüre man politischen Entscheidungsträgern ans Herz legen möchte. (Andrea Heinz, 3.1.2023)