Es ist keine Schande, die Sinawastingasse nicht zu kennen: Die Sinawastingasse ist eine 440 Meter kurze Sackgasse in Floridsdorf. Sie zweigt auf Höhe der A22 von der Jedleseer Straße Richtung Donau ab. Trotz Garageneinfahrten bei den Einfamilienhäusern wird meist auf der Straße geparkt: Die ist breit genug – außerdem fahren hier ohnehin fast nur Anrainerautos.

Fahrradstraßen sollen helfen, das Radfahren attraktiver zu machen. International funktioniert das gut. In Österreich eher nicht.
Foto: Thomas Rottenberg

Durchzugsverkehr gibt es dennoch: mit dem Fahrrad. Denn die Sinawastingasse führt zur "gelben Brücke". Die heißt eigentlich Steinitzsteg, ist unter diesem Namen aber kaum jemandem ein Begriff. Als zentrale Donau-Radquerung für alle, die aus Floridsdorf "in die Stadt" wollen (oder als Treffpunkt für Rennradgruppen), ist sie aber wohlbekannt: Die Sinawastingasse beradelt man, ohne sie bewusst wahrzunehmen.

Nullum Fahrradstraße

Wiens Radverkehr soll und wird weiter zunehmen. Also wurde die Sinawastingasse aufgewertet: Sie ist nun eine Fahrradstraße.

Was nach großem Wurf klingt, ist tatsächlich ein Nullum. Denn abgesehen von Verkehrsschildern und einem Piktogramm auf der Fahrbahn veränderte sich genau gar nichts.

Die regionalen Radprobleme liegen ja auch anderswo: Wer aus den dichtbewohnten Zonen Floridsdorfs zur gelben Brücke will, muss davor nämlich durch die Fahrradhölle: über die Prager, die Brünner oder die Jedleseer Straße. Dort ist Radinfrastruktur, die diesen Namen auch verdient, vor allem eines: inexistent.

Isoliert betrachtet

Die Sinawastingasse ist ein beliebiges, aber repräsentatives Beispiel. Fahrradstraßen, so steht es seit 2019 im einschlägigen "Masterplan" der Stadt Wien, sollen "eine vollwertige Lösung für Radverbindungen abseits der Hauptverkehrsstraßen für ein attraktives Wiener Radverkehrsnetz, insbesondere im dicht verbauten Stadtgebiet", bieten. Isoliert, ohne das Umfeld mitzubetrachten, funktioniere das tatsächlich, sagt der Sprecher der Radlobby Österreich, Roland Romano. Aber eben nur dann. 20 Fahrradstraßen (Gesamtlänge: knapp sieben Kilometer) zählt die Radlobby in Wien – etwa 50 in ganz Österreich. Dabei kennt die Straßenverkehrsordnung die Fahrradstraße – im Paragraf 67 der StVO – schon lange: seit 2013.

Anderswo war man deutlich früher dran: Bremen verfügt seit den 1980er-Jahren über ein Netz an Fahrradstraßen. München hat heute über 60. Und von Fahrradstraßen in den Niederlanden könnte Romano lang erzählen. Das Fazit sei eindeutig: "Ein bewährtes Instrument zur Attraktivierung des Radverkehrs auf Hauptradrouten im verkehrsberuhigten Bereich."

Durchfahrt verboten

Fahrradstraßen sind beinahe normale Straßen: Radfahrende dürfen nebeneinander fahren, Autofahrer müssen "besondere Rücksicht" nehmen. Höchstgeschwindigkeit: 30 km/h. Nicht weiter aufregend – wäre da nicht noch etwas: Die Kfz-Durchfahrt ist verboten. So wie in Wohnstraßen ja eigentlich auch.

"Eigentlich" steht in Österreich für "wurscht". Österreichs erste Fahrradstraße wurde 2013 in der Kuchelauer Hafenstraße eröffnet. Die war ein bekannt-beliebter Pkw-Schleichweg, wenn die Schnellstraße zwischen Wien und Klosterneuburg voll war. Erst als Wien 2018 am oberen Ende der Straße Poller setzte, griff das Durchfahrtsverbot. Mancher Lokalpolitiker nennt das bis heute "Schikane".

Politworthülsen

"Damit eine Fahrradstraße eine Fahrradstraße sein kann, reicht es nicht, Schilder aufzustellen: So wie eine Wohn- oder Spielstraße muss sie so gestaltet werden, dass sie ihre Funktion erfüllen kann." Von Radlobbyisten wie Romano erwartet man diesen Satz. Hier stammt er aber von der angeblich "anderen" Seite: Matthias Nagler ist Verkehrsexperte beim ÖAMTC. Doch die Wahrnehmung des Clubs deckt sich mit jener der Lobby: Fahrradstraßen laden zum Alltagsradeln ein – vorausgesetzt, der Autodurchzug wird abgeblockt und auch das Umfeld passt. Sonst ist die Fahrradstraße eine leere Verkehrswende-Politworthülse.

Das Kuchelau-Learning deutet auf Letzteres hin, beklagt Radlobby-Sprecher Romano: "Meistens steht da einfach nur ein Schild: Fahrradstraßen gibt es bisher nur dort, wo der Autoverkehr nicht beeinträchtigt wird." In Sackgassen etwa: Auch Wiens Boltzmanngasse ist Fahrradstraße. Sie endet an der Strudelhofstiege – einer Treppe. Aber auch am einst als Park propagierten Fasanplatz in Wien-Landstraße bremst das Rad kein Auto auf diesem De- facto-Parkplatz. Oder in der Peripherie der Peripherie, in der Alten Straße hinter Süßenbrunn etwa.

Fahrradstraßen im Land

Reines Wien-Bashing wäre aber unfair: Oberösterreich bekam diesen April seine erste Fahrradstraße. Dass die Welser Traunuferstraße aber schon davor mehr mit Rädern denn Autos befahren worden sei, wurde bei der Eröffnung mehrfach betont. In St. Pölten wurden schon 2020 rund 800 Meter Fahrradstraße als "Anfang" gefeiert. Nicht die ersten Fahrradstraßen außerhalb Wiens. Klagenfurt, Hard (Vorarlberg) und Reute (Tirol) richteten 2013 erste Fahrradstraßen ein, Salzburg folgte 2014 – und Bad Radkersburg hat seit 2018 eine "ländliche Fahrradstraße". Nur das Burgenland fehlt.

Fahrradstraßen gibt es in allen Bundesländern außer dem Burgenland.
Foto: Thomas Rottenberg

Radlobbyist Romano konstatiert ein "Ost-West-Gefälle", räumt aber ein, dass Art und Volumina des Verkehrs oft nicht vergleichbar seien. ÖAMTC-Mann Nagler ist weniger diplomatisch: "Es geht um den politischen Willen." Das Hauptargument gegen Fahrradstraßen – Anrainer, Müllabfuhr und Co wären vom Durchfahrtsverbot auch betroffen – verliere durch in der jüngsten StVO-Novelle verfügte Erleichterungen für Ausnahmen an Schlagkraft. Das ändere jedoch am aus Wohnstraßen bekannten "Durchfahrt ‚eigentlich‘ verboten"-Dilemma wenig. Nagler sieht die Planer gefordert: "Es funktioniert nur, wenn es erkennbar und selbsterklärend ist."

Österreichs Wohnstraßen sind das eher selten. Darum lässt auch niemand Kinder in "Spielstraßen" spielen. In den Niederlanden werden Fahrradstraßen knallrot eingefärbt: "Jeder Autofahrer sieht, dass er auf fremdem Terrain ist", so Romano. Doch obwohl internationale Beispiele längst zeigen, wie man ganze Viertel durch einfache und günstige Maßnahmen wie Poller, gegenläufige Einbahnen oder Ab- und Umleitungen für Autos undurchfahrbar macht, ist die Lernkurve hierzulande anhaltend flach.

Schlimmer geht immer

Als Worst-Practice-Beispiel verweist der TU-Verkehrsplaner Ulrich Leth da auf die Hasnerstraße in Wien-Ottakring. 2012 erfand man dort die sogenannte "fahrradfreundliche Straße". Der Durchzugsverkehr wurde gezügelt, den Querverkehr "übersah" man. Doch Ortskundige nutzen die Quergassen seit jeher als "Schnellverbinder" am Gürtelstau vorbei.

Auf die prompt steigende "Radlerabschussquote" folgte aber nicht die Schließung der Schleichwege, sondern "Kreuzungsaufdoppelungen": Schwellen. "Pro Kreuzung kostet das sechsstellig", schüttelt Leth den Kopf und ärgert sich: Gebremste werden nicht nur die, die rasen, "die dann halt stärker aufs Gas tippen, sondern auch die Radfahrenden". Das Resultat: "Eine an sich attraktive Hauptroute wurde zu einer anstrengenden Buckelpiste."

Das Problem, betont Romano, sei jedoch "nicht die Fahrradstraße an sich: Wo es die gibt, sind sie wichtig und richtig. Die Frage lautet aber: Was kommt nach dem Fahrradstraße-Ende-Schild?"

Wenn Fahrradstraßen ins klassische Straßennetz münden, sind die Radstreifen stellenweise nicht einmal so breit wie ein Fahrradlenker.
Foto: Thomas Rottenberg

Dort, wo die verkehrsberuhigt-komfortable Sinawastingasse ins "klassische" Straßennetz mündet, ist das die stark befahrene und dicht beparkte Jedleseer Straße mit ihren Radmehrzweckstreifen. Die sind stellenweise schmäler als ein Fahrradlenker. In Holland heißt dieser Bereich "Todeszone". In Österreich ist seine Benutzung Vorschrift. (Tom Rottenberg, 30.12.2022)