Anderswo schirmt sich die Dominikanische Republik gegen Zuwanderung aus Haiti ab (Foto), am Massacre-Fluss aber klappt die Zusammenarbeit.

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Eine binationale Fabrik auf dem Grenzstreifen zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik? Und dann auch noch dies- und jenseits des Massacre-Flusses im Norden, eines Symbols der gegenseitigen Ressentiments? Seinen Namen erhielt er 1728, als französische Freibeuter von spanischen Siedlern getötet wurden. Aber er steht auch für ein grausames, rassistisch motiviertes Massaker an rund 10.000 haitianischen Einwanderinnen und Einwanderern, das 1937 vom dominikanischen Diktator Leonidas Trujillo angeordnet wurde. Sie wurden erschlagen, ihre Leichen in den Fluss geworfen, anschließend blieb die Grenze Jahrzehnte lang dicht.

Ausgerechnet hier wollten Fernando Capellán und Joseph Blumberg eine Fabrik errichten. Ihnen gehörte die in der Dominikanischen Republik erfolgreiche Textilfirma Grupo M. Es ging ihnen aber nicht vorrangig um eine symbolische Aussöhnung, sondern um eine Geschäftsidee: Sie standen zur Jahrtausendwende unter Globalisierungsdruck.

China war gerade der Welthandelsorganisation beigetreten, und mit den asiatischen Niedriglohnempfängern konnten die Textilfabriken der Grupo M in der Dominikanischen Republik nicht mithalten, wie die Geografin Marion Werner von der Universität in Buffalo anmerkt. Sie ist Expertin für Freihandelszonen in der Karibik.

Gleichzeitig eröffnete sich mit dem 2006 unterzeichneten Hope-Abkommen, das haitianischen Textilien zollfreie Einfuhr in die USA gewährte, eine neue Chance. Der anvisierte Ort war für den schwindelerregenden Rhythmus der Modebranche ideal: Vom Seehafen Manzanillo, eine halbe Stunde von Ouanaminthe entfernt im Norden der Dominikanischen Republik, ist die Ware innerhalb von zwei Tagen in den USA.

Aufschwung im Armenhaus

So überzeugten Capellán und Blumberg die Weltbank, die einen Kredit gewährte, und den damaligen haitianischen Präsidenten, den Armenpriester Jean-Bertrand Aristide. "Freihandelszonen wurden damals auch von der (linken) haitianischen Regierung als das kleinere Übel und als Motor für Entwicklung, Arbeitsplätze und Wählerstimmen gesehen", schreibt Werner in ihrer Studie zu Haiti. 2003 wurde der Industrie- und Freihandelspark Codevi in der fruchtbaren Flussniederung zwischen den Städten Dajabón und Ouanaminthe eröffnet.

Der Ort auf der haitianischen Seite war damals eine Siedlung aus Lehmhäusern, ohne Strom oder Kanalisation. Die Menschen lebten von der Subsistenzwirtschaft, wuschen ihre Wäsche im Fluss und kochten ihr Essen über dem Holzfeuer. Der Nordwesten ist das Armenhaus Haitis. 80 Prozent der Einwohner waren nicht erwerbstätig, 60 Prozent konnten nicht lesen oder schreiben und lebten unterhalb der Armutsgrenze.

20 Jahre später steht Blumberg, ein agiler 63-Jähriger mit schütterem Haar und einem wachen Blick hinter dicken Brillengläsern, unter der brennenden Tropensonne auf dem firmeneigenen Parkplatz und sagt mit einer ausladenden Handbewegung: "Hier parken 8.500 Motorräder unserer Angestellten. Und seit diesem Jahr gibt es sieben Autos. Das macht mich stolz. Denn als wir anfingen, kamen alle zu Fuß." Für Codevi hat sich die Investition gelohnt, wie Blumberg stolz aufzählt: 30 Hallen befinden sich auf dem 400.000 Quadratmeter großen Gelände, 13 Textilunternehmen aus der ganzen Welt haben sich eingemietet, die für Unternehmen wie Old Navy, Tommy Hilfiger, Hanes, Gap oder Fruit of the Loom produzieren.

Auch Ouanaminthe hat profitiert – obwohl die letzten 20 Jahre für Haiti nicht einfach waren: Es gab Umstürze, Erdbeben, Hurrikans und Präsidentenmorde. Die Bevölkerung hat sich durch den Zuzug auf 96.000 Einwohner vervierfacht, es gibt zweistöckige Steinhäuser, eine geteerte Überlandstraße nach Cap Haitien, Banken und Läden.

Auf der geschäftigen Hauptstraße überholen Motorradtaxis laut hupend schwerbeladene Lastenfahrräder, und Kinder gehen in Uniformen zur Schule. Währenddessen arbeiten ihre Eltern in Hotels, Restaurants oder den vielen Geschäften, in denen es Importwaren aus Dajabón zu kaufen gibt. Ouanaminthe ist der wichtigste Umschlagplatz für Importgüter für den gesamten Nordwesten Haitis und ein Hort der Stabilität gegenüber der Hauptstadt Port-au-Prince. Dort liefern sich Drogengangs derzeit Revierkämpfe und errichten Straßensperren, um Passanten auszurauben, zu vergewaltigen oder zu entführen.

Wenig Profit durch Grundversorgung – dafür Stabilität

Ouanaminthe hingegen ist ein sicheres Pflaster. Bei Codevi sorgt dafür ein privater Sicherheitsdienst, außerhalb der Freihandelszone übernehmen die haitianische und die dominikanische Polizei diese Aufgabe. Codevi ist Betreiber des Industrieparks, die Textilfirmen mieten die Hallen an, produzieren und schließen die Arbeitsverträge. Es gibt Gewerkschaften und die Möglichkeit, eine Krankenversicherung abzuschließen, die die Nutzung einer privaten Klinik auf dem Firmengelände ermöglicht. Arbeitenden Müttern steht eine Kinderkrippe zur Verfügung.

Die Baumschule und die Tankstelle mit verbilligtem Kochgas sollen die dramatische Abholzungsrate in Haiti reduzieren. Der Gashandel ist dort in Hand eines Oligopols, das die Preise diktiert. Bei Codevi wird das Gas mit einer kleineren Gewinnspanne verkauft – so profitieren beide Seiten davon. Ähnlich funktionieren der Supermarkt auf dem Firmengelände, der Motorradersatzteilladen, die Kantine und ein kleines Hotel. "Alles ist minimal kostendeckend. Das gibt uns soziale Stabilität", sagt Blumberg. Die Strategie scheint zu funktionieren. "Wir haben trotz der Krise im Rest Haitis keinen einzigen Tag schließen müssen", betont Blumberg.

20.000 Menschen arbeiten in dem Industriepark, 19.000 davon stammen aus Haiti. 95 Prozent hatten vorher noch nie eine Nadel in der Hand oder eine Nähmaschine gesehen. Für sie gibt es ein Schulungszentrum. In der Mittagspause wirkt das Firmengelände ein bisschen wie ein Campus, wenn tausende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in grauen, gelben, blauen oder grünen T-Shirts – je nach Arbeitgeber – in die Firmenkantine gehen oder auf schattigen Bänken via ihre Handys chatten. Einer von ihnen ist Frandzie Tide.

Grenzen bei der Politik

Er ist Gewerkschaftsführer, 47 Jahre alt und arbeitet seit elf Jahren als Aufseher in einem Warenlager. "Bei Codevi arbeiten zu können ist ein Ansporn für viele junge Leute aus Haiti, wo man keinerlei Chancen auf einen sozialen Aufstieg hat", fügt er hinzu – und schickt gleich das "Aber" hinterher: "Der Lohn ist viel zu gering. Ich verdiene 810 Pesos (rund 14 Euro) täglich. Davon gehen 150 fürs Frühstück und 300 fürs Mittagessen weg", zählt er auf. Was übrig bleibt, reiche gerade so, um die Familie über die Runden zu bringen. Seine beiden größten Träume, ein Motorrad und ein Haus, konnte er sich bislang nicht erfüllen. Dennoch verdient er dreimal so viel wie der Durchschnitt seiner Landsleute.

Codevi hat auf haitianischer Seite Sportplätze gebaut und sorgt sich um die Umwelt. Eine vor einem Jahr in Betrieb genommene Recyclinganlage soll dies- und jenseits der Grenze das Müllproblem mindern und die Nachhaltigkeit der Produktionsstätte verbessern – in Zeiten, in denen Umweltschutz und transparente Lieferketten zur Norm werden.

Alles kann Codevi jedoch nicht stemmen: In Ouanaminthe fehlt es bis heute aufgrund der korrupten Lokalpolitiker an grundlegender Infrastruktur wie Wasser und Strom. Die Akkumulation von Kapital sei vor allem Privatleuten zugutegekommen, schreibt Werner. Die meisten davon arbeiten allerdings nicht bei Codevi, sondern bereichern sich am florierenden binationalen Handel, der legale ebenso wie illegale Geschäfte umfasst.

Akribisch hat Werner die Ungleichheiten und Bruchstellen des Wirtschaftsmodells an der Grenze dokumentiert. Angefangen bei Alltagsrassismus über strukturelle Faktoren – etwa, dass die besser bezahlten Jobs bei Codevi fast ausschließlich von hellhäutigen Männern wahrgenommen werden – bis zu Entlassungswellen von aufmüpfigen Arbeitern, die relativ leicht ersetzt werden durch interne haitianische Migranten, die nach der Eröffnung von Codevi in die Region kamen und das soziale Gefüge des Ortes erschütterten. "Wir haben viel aus unseren Anfangsfehlern gelernt", antwortet Blumberg auf die Kritik. "Heute sprechen alle Manager Creole, und wir suchen den Dialog mit den Gewerkschaften. Die Idee mit dem Bau des Motorradparkplatzes stammt von ihnen."

Alternative zur Mauer

Viel Licht und einige Schatten also – aber für den lokalen TV-Journalisten Melbin Toribio stünde die Region ohne Codevi deutlich schlechter da. "Für mich ist die einzig sinnvolle Mauer eine aus Arbeitsplätzen", sagt er unter Anspielung auf die Betonmauer, die die dominikanische Regierung gerade an der gemeinsamen Grenze baut, um die illegale Migration zu stoppen. "Wenn unsere haitianischen Nachbarn entlang der Grenze legal Arbeit finden, ist das für beide Seiten vorteilhaft."

Dem stimmt auch Wirtschaftsminister Pavel Isa zu, der neulich mit Blumberg und anderen Unternehmern der Region eine Strategie zur Entwicklung der historisch vernachlässigten Grenzregion unterzeichnete. "Wir brauchen eine gemeinsame Vision, private Investoren und die Regierung, um eine integrale Entwicklung an der Grenze zu ermöglichen", sagte er. Die Gründung von Codevi sei damals wegweisend gewesen, betont er, und ein positives Beispiel für die Region.

Blumberg fühlt sich ermutigt durch den seit der Pandemie verschärften Trend zum Nearshoring, zur Rückverlagerung der Produktionsstätten. "In den vergangenen fünf Jahren haben wir so viele neue Produktionshallen gebaut wie in den 15 Jahren davor", erzählt er. Nun plant die Unternehmensgruppe eine zweite Grenzfreihandelszone nach demselben Modell, in der andere Exportprodukte gefertigt werden. (Sandra Weiss aus Dajabón, 3.1.2023)