Zeit ist messbar und kostbar: Bei den Arbeiterinnen der Uhrenfabriken wird in "Unruh" genau kontrolliert, wie viel sie in ihren Schichten erledigen können.

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Der aus der Fremde kommende Held von Cyril Schäublins Film, eine der großen Entdeckungen des vergangenen Kinojahres, ist niemand Geringerer als Pjotr Kropotkin, der russische Anarchist. Allerdings kommt dieser in die Schweizer Uhrenstadt Saint-Imier in den 1870er-Jahren noch als Landvermesser und neugieriger Beobachter, der sich von örtlichen Gewerkschaftsinitiativen inspirieren lässt. Schäublins historischer Film ist eine raffinierte Erzählung über Arbeiterbewegung, Anarchismus und "Zeit": wie Letztere Arbeit in den (Uhren-)Fabriken kontrollieren hilft, wie sie Politik-, Nation- und ganze Weltbetrachtungen formt.

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STANDARD: Eine große Frage zum Start: Was ist Zeit überhaupt? Und hat Sie diese Überlegung vielleicht sogar selbst motiviert?

Schäublin: Die Frage habe ich lustigerweise auch vielen Leute gestellt. Mein Großonkel, der in einer Uhrenfabrik gearbeitet hat, sagte mir, dass er die Frage nicht beantworten könne. Wovon er aber sprechen kann, ist die Zeitmessung. Die ersten Uhren wurden durch Sprache geschaffen, durch Abkommen wie die Definition von heute und morgen. Das übersetzt die mechanische Uhr in Tick und Tack. Und das ist auch nah am Geschichtenerzählen – was mich zu der Überlegung brachte, dass alle diese Ordnungen keine abgeschlossenen Wirklichkeiten sind.

STANDARD: In "Unruh" zeigt sich das an diversen Zeitzonen, es gibt noch die Fabriks- und die Gemeindezeit – man hat sich noch auf keine allgemein gültige Zeit geeinigt.

Schäublin: Für mich wird an dieser Epoche im 19. Jahrhundert sehr gut deutlich, was an der Geschichtsschreibung alles unzulänglich ist. Die Idee der Nation oder der kapitalistischen Organisation wurde so einzementiert, dass sie alternativlos erscheint – daher ist es wichtig zu erinnern, dass beides auf Imaginärem aufbaut. Ihr Beispiel illustriert ja die Vieldeutigkeit von Zeit, die es auch in der Geschichtsschreibung geben sollte. Woran erinnert man sich, wenn man ein kollektives Bewusstsein schaffen möchte? Und wer kann sagen: "Das ist jetzt die gültige Zeit"? Das war ein langer Prozess: Um die Länder gleichzuschalten, hat der Telegraf eine wichtige Rolle gespielt.

STANDARD: Sind Sie über das Uhrengewerbe eigentlich zum Anarchismus gekommen? Oder andersherum?

Schäublin: Das begann eindeutig mit der Uhr. Ich komme selbst aus einer Uhrmacherfamilie. Meine Großmutter, selbst meine Urgroßmutter waren Regleusen, sie haben die Unruhe der Uhren zusammengesetzt. Als Student in China war ich dann mit diesem Klischee der Schweiz als Idylle der Banken, Uhren und Schokolade konfrontiert. Obwohl ich diesem Klischee irgendwo entsprochen habe, hat es nichts mit diesem Rolex-Werbebild zu tun. Meine Großmutter musste mit elf Jahren in die Fabrik, wir sind eine Arbeiterfamilie.

STANDARD: Aber es geht in "Unruh" nicht nur um die Korrektur dieses Klischeebilds – Sie zeigen auch, welche Ideen und Politiken rund um diese Nationbildung kursieren.

Schäublin: Ja, rund um den Ort der Uhrenfabrik. Wichtig war Florian Eitels Buch Anarchistische Uhrmacher im 19. Jahrhundert in der Schweiz. Sein Ansatz war, dieses Tal und diesen Ort zu verstehen: Wie waren die Verhältnisse der Arbeiterschaft, was wollte diese frühe liberal-nationalistisch geprägte Bewegung? Das war eine schöne Brücke zu der Frage, was das überhaupt genau ist – dieses Welten- und Nationenbauen. Die anarchistische Gewerkschaft wollte eine eigene Ordnung erschaffen. Dieser Versuch hat mich noch mehr interessiert als der Anarchismus an sich.

STANDARD: Haben Sie sich überlegt, wie stark das Bewusstsein der Menschen dafür ist, sich in solchen Umbruchsphasen zu befinden?

Schäublin: Ich glaube, dass sich das gerade schärft. Mir ist erst bei der Arbeit am Film richtig bewusst geworden, dass diese Anfänge der anarchistischen Bewegung viel mit Kooperation zu tun haben, mit gegenseitiger Hilfe und Unterstützung, einer "Care"-Organisation. Das Narrativ, sie sei chaotisch, kam ja von bürgerlich-nationalistischer Seite – dabei hat sich diese selbst als viel gefährlicher und unbeständiger erwiesen. Doch wir performen diese kapitalistische Mythologie anhand von Bildern konsequent weiter. Das Phantomhafte dieser Gewaltausübung ist etwas, das mich stutzig macht.

STANDARD: Haben Sie deshalb auch diese außergewöhnliche szenische Auflösung gewählt, die oft gar nicht die Menschen ins Zentrum setzt?

Schäublin: Ja, ich wollte die Frage transportieren, wie wir unseren Blick organisieren. Was ist Zentrum, was ist Außen, Peripherie – wie in der Geschichtsschreibung: Blickt man auf die nationale Mythologie? Oder auf Hinterhöfe von Fabriken, wo Menschen stehen und miteinander sprechen. Da kann sich mehr davon offenbaren, was wir performen: Wie gehen wir damit um, dass wir entlassen müssen, wir uns Löhne auszahlen. Dass wir dieses verrückte Spiel weitertreiben und dabei trotzdem menschliche Körper mit Augen und Zungen und Herzschlag sind. (Dominik Kamalzadeh, 2.1.2023)