Kulturwissenschafter Christoph Landerer schreibt in seinem Gastkommentar über Europas Probleme in der Asyl- und Migrationspolitik.

Wie kann Europa Asyl- und Migrationspolitik gestalten, ohne sich von seinen rechtlichen Standards und moralischen Ansprüchen zu verabschieden? Fest steht nur, dass sich eine "gemeinsame, humane und grundrechtsorientierte Asyl- und Migrationspolitik", wie die Migrationsexpertin Judith Kohlenberger im Gastkommentar fordert, nicht mit einfachen Mitteln realisieren lässt. Mit den bisherigen Modellen setzt sich Europa, wie Kohlenberger moniert, auch Erpressungsmöglichkeiten aus. Doch wie sehen die Lösungen aus?

Europa ist weiter bei Asylfragen uneins: Ein Luftbild (Archivaufnahme) zeigt ein Boot mit Flüchtenden in der Straße von Gibraltar kurz vor ihrer Rettung.
Foto: AFP/Marcos Moreno

Bis heute ist es nicht gelungen, die Asyl- und Migrationspolitik des Alten Kontinents im gesellschaftlichen Konsens zu entwerfen. Das hat eine Reihe von Gründen, die in der geopolitischen Situation Europas, den Eigenheiten europäischer Politik, aber auch der Art kontinentaler Diskussionsführung begründet sind. Denn Europa ist bis heute auf der Suche nach einem archimedischen Punkt, von dem aus sich ein Asyl- und Migrationssystem konstruieren lässt, das zugleich human, legal, und effektiv ist. Hier liegen Zielkonflikte vor, die nur pragmatisch aufgelöst werden können.

Hocheffektiv

Australien hat diese Suche aufgegeben – sein Modell ist hocheffektiv im Sinn einer Verhinderung irregulärer Migration, aber es ist weder legal noch human, jedenfalls dann nicht, wenn man die Anspruchslatte nicht allzu niedrig legen möchte. Der Türkei-Deal dagegen war seinen Intentionen nach human und legal, aber nicht effektiv. Die umständlich geregelten Rückführungen, mit dem daran geknüpften Resettlement, kamen kaum zustande. 2019, im letzten Jahr vor Corona, lag die Rückführungsquote bei alarmierenden 1,4 Prozent.

Während Australien durch die grundsätzlich schiffbare Timorsee unter Druck geriet, hat Kanada kaum vergleichbare Probleme. Vor irregulärer Einreise in großer Zahl über Flughäfen und Häfen schützen strenge Visabestimmungen, an der einzigen Landgrenze zu den USA verfügt Kanada über ein "Safe Third Country Agreement", das Rückweisungen ohne die in Europa üblichen Einzelfallprüfungen ermöglicht. Abseits regulärer Grenzübergänge sind die Zahlen in letzter Zeit gestiegen; Kanada hat hier die Möglichkeit von Internierungen, die bis zu einem halben Jahr und länger dauern können. Auch das wäre in Europa nicht umsetzbar. Europa ist in einer sehr speziellen Situation, aufgrund seiner Geografie, seiner hohen Rechtskultur, aber auch der sehr unterschiedlichen Interessen der Einzelstaaten. Nirgendwo zeigt sich die zögerliche und planlose europäische Politik eindrucksvoller als im Fall der Flüchtlings- und Migrantenrouten im Mittelmeer.

"Natürlich macht jeder dieser Verträge abhängig und schafft Erpressungsmöglichkeiten, aber Abhängigkeiten von Drittstaaten sind grundsätzlich der Preis für ein geregeltes Asylsystem."

Australien, das 2013 noch über 200 Ertrunkene verzeichnete – im Mittelmeer sterben jährlich zwischen 1500 und 5000 Menschen –, konnte diese Zahlen ab 2014 auf null senken. Der dramatische Rückgang war das Ergebnis einer harten "No Way"-Politik, die auf Pushbacks und der strikten Verweigerung einer australischen Asyloption beruhte, aber auch auf Verträgen mit Drittstaaten, die vorausschauend verhandelt wurden. Die europäische Politik dagegen wurde bis zum Türkei-Deal kaum initiativ. Ärzte ohne Grenzen argumentiert den Transfer nach Italien 2017 auf Nachfrage damit, dass die bei küstennaher Rettung im Großraum Tripolis näheren tunesischen Häfen nicht als "sichere Häfen" gelten – ein Asyl- und Fremdenrecht werde in Tunesien "zurzeit noch erarbeitet". Um Tunesien die Rettung an die eigene Küste schmackhaft zu machen, hätte Europa ein umfangreiches Paket mit Wirtschaftshilfe, geregelten Migrationsprogrammen und logistischen Unterstützungsleistungen anbieten müssen und auf dieser Basis wohl die Zahl der Überfahrten senken können. Geschehen ist dergleichen nicht; man hat hier einfach so lange zugesehen, bis Matteo Salvini Innenminister war – und aktuell mit Giorgia Meloni eine Neofaschistin Premierministerin ist, die einen harten Kurs gegen die zivile Seenotrettung fahren will.

Natürlich macht jeder dieser Verträge abhängig und schafft Erpressungsmöglichkeiten, aber Abhängigkeiten von Drittstaaten sind grundsätzlich der Preis für ein geregeltes Asylsystem. Nur auf dieser Basis kann es überhaupt geordnete Rückführungen geben, die einzige Alternative liegt in einem maximal ausgebauten Grenzschutz mit physischen Barrieren, Pushbacks und unmittelbaren Abweisungen. Die extreme Form einer völligen Auslagerung, wie sie das britische und dänische Ruanda-Modell vorsieht, ist für den Rest Europas keine aktuelle Vision. Doch diese Diskussion ist im Fluss. Neue Modelle müssen an den Schwachstellen des europäischen Systems ansetzen und diese Mängel überwinden helfen.

Verfahren auslagern?

Eine Auslagerung der Verfahren in einen außereuropäischen Bereich – wie sie neuerdings auch SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner fordert – könnte jedenfalls schlagartig Probleme lösen. Dazu zählen fortgesetzter illegaler Aufenthalt trotz aufenthaltsbeendender Entscheidung und, damit verbunden, die mangelnde Attraktivität freiwilliger Rückreise im Umfeld eines dysfunktionalen Systems, das eine zwangsweise Ausreise in der Mehrzahl der Fälle nicht durchsetzen kann. Freiwillige Rückreisen aus außereuropäischen Ländern müssten unterstützt werden; die prohibitive Distanz verhindert jedenfalls die unmittelbare Wiedereinreise. Die Abhängigkeit von Drittstaaten wäre in diesem Fall total, aber Abhängigkeiten lassen sich im Rahmen eines funktionierenden Asylsystems nur diversifizieren und können nicht auf null gesetzt werden.

Ein solches europäisches Modell könnte – anders als in den britischen und dänischen Plänen – schließlich auch mit einer europäischen Asyloption versehen werden. Da die Karten gerade neu gemischt werden, müssen auch die möglichen Optionen nüchtern und ohne vorgefasste Meinung neu bewertet werden. (Christoph Landerer, 3.1.2023)