Der Verlauf jedes Krieges ist unvorhersehbar. Das hat nicht nur das Schicksal Hitlerdeutschlands im Zweiten Weltkrieg gezeigt. Auch die überraschenden Erfolge der Ukraine auf dem Schlachtfeld haben die Schnellschüsse westlicher "Experten" über den sofortigen Zusammenbruch der Regierung in Kiew als voreilige Panikmache entlarvt.

Ebenso verfrüht erscheinen allerdings die Spekulationen US-amerikanischer Politologen, wie etwa in der Fachzeitschrift Foreign Affairs, über die Chancen und die Gefahren einer als wahrscheinlich betrachteten russischen Niederlage.

Wladimir Putin spricht in seiner Neujahrsrede zur russischen Bevölkerung.
Foto: REUTERS/Shamil Zhumatov

Unabhängig vom aktuellen Verlauf des russischen Aggressionskrieges steht fest, dass Wladimir Putin, der 70 Jahre alte Herrscher Russlands, am 24. Februar 2022 mit dem Überfall auf das Nachbarland die nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Kolonialreiches und der kommunistischen Diktaturen 1989 bis 1991 gehegten Hoffnungen auf eine friedliche und kooperative Entwicklung in Europa auf lange Sicht zerstört hat.

Man darf nicht vergessen, dass die russischen Raketen auch das Debakel der von Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrem damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier getragenen Politik des "Wandels durch Verflechtung" und der "Modernisierungspartnerschaft" mit Moskau bedeuten. Natürlich darf man Merkel nicht mit dem ehemaligen SPD-Kanzler Gerhard Schröder, dem "Laufburschen Putins" (so Alexej Nawalny), vergleichen. Steinmeier hat allerdings glaubwürdig seine Irrtümer zugegeben und sie bedauert. Merkel traf den Ex-KGB-Mann Putin auf seinem Weg zur totalen Macht so oft wie keinen anderen Regierungschef.

Schicksalhafte Entscheidung

Aus welchem Grund auch immer, hat sie ihn trotzdem falsch eingeschätzt und war bis zuletzt (im Gegensatz zu ihrem außenpolitischen Berater Christoph Heusgen) für die Ostseepipeline gewesen. Als perfekter Geheimdienstler hat der russische Diktator auch im Naheverhältnis zur Merkel, der Russland-Kennerin mit emotionaler Bindung, seine Fratze des brutalen großrussischen Nationalisten anscheinend doch erfolgreich verschleiert. Man erwartet mit Spannung die politischen Memoiren Merkels, vor allem über die sechzehn Jahre ihrer Russland-Politik.

Wie auch immer, Putins schicksalhafte Entscheidung hat auch den Blick in Brüssel und hoffentlich auch in Berlin für die weltpolitischen Machtverhältnisse verschärft. Wie zur Zeit Hitlers und Stalins erweisen sich die Vereinigten Staaten, trotz aller berechtigten Kritik an US-amerikanischen Aktionen vom Angriff gegen den Irak bis zum Rückzug aus Afghanistan, als die weltweit noch immer unersetzliche Schutzmacht der liberalen Demokratie.

Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, wenn die Führungsmacht der Nato bei der Serie von Putins aggressiven Aktionen in Georgien (2008), auf der Krim (2014) und in den folgenden Jahren in Syrien früher reagiert hätte. Die Republik Ukraine verdankt nicht nur der Kampfkraft der Armee und dem Widerstandsgeist der Nation das Überleben, sondern auch dem militärischen, wirtschaftlichen und politischen Beistand der Biden-Regierung. 2022 war also nicht nur das Jahr des Brandstifters Putin. Er war auch ein Jahr des Weckrufes für die mächtigste Demokratie der Welt. (Paul Lendvai, 3.1.2023)