Neue Wind- und Solarkraft verhilft den Briten zu einem Überschuss.

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Zum ersten Mal im vergangenen Jahrzehnt war Großbritannien 2022 ein Nettostromexporteur. Dadurch konnte die Brexit-Insel im vergangenen Jahr häufig die Elektrizitätsengpässe bei den Nachbarn, besonders in Frankreich, ausgleichen. Möglich wurde der lukrative Überschuss vor allem durch den stetig wachsenden Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung des Landes. Die Stromerzeuger hätten "ein Jahr wie kein anderes" erlebt, resümiert Iain Staffell vom Londoner Imperial College.

Der Wissenschafter ist mitverantwortlich für eine Website, die anhand detaillierter Daten vor allem des Netzbetreibers National Grid zusammengestellt und vom Energieversorger Drax bezahlt wird. Demzufolge war Windenergie für 27 Prozent der Stromproduktion verantwortlich, ein neuer Rekord. Hinzu kamen weitere elf Prozent aus Biomasse, Solaranlagen und von Wasserkraftwerken. Atomkraftwerke steuerten 16 Prozent zum Energiemix bei, die noch vor Jahren dominierenden Kohlekraftwerke hingegen nur mehr ein Prozent.

Großbritannien hat in den vergangenen Jahren nicht nur eifrig neue Wind- und Solarkraftwerke in Betrieb genommen, sondern auch die unterseeischen Ausgleichsleistungen auf dem Kontinent ausgebaut. Dies geschah in der – meist auch berechtigten – Erwartung, die Insel müsse immer wieder Strom aus Belgien und Frankreich beziehen.

Kurz vor Blackout

Zu einer dramatischen Zuspitzung kam es beispielsweise während der Hitzewelle im vergangenen Juli, als durch erhöhten Konsum und einen zeitweiligen Netzengpass der Osten der britischen Hauptstadt kurz vor einem Blackout stand.

Durch eine Rekordzahlung an Belgien – mehr als 5000 Prozent über dem normalen Preis – konnte die Peinlichkeit vermieden werden, die Weltstadt London vorübergehend ohne Strom zu lassen, berichtete damals der hochangesehene Energie-Analyst Javier Blas. Es war knapp: Hätte Belgien nicht helfend eingegriffen, hätte National Grid einer Reihe von Haushalten vorübergehend den Strom sperren müssen.

Übers Jahr hingegen floss der Strom häufiger in die andere Richtung, was vor allem mit der Krise der französischen Atomkraftwerke zu tun hatte. Insgesamt exportierte die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt 1,9 Terawattstunden und nahm dadurch rund 3,5 Milliarden Euro ein.

Das gelang vor allem wegen des ehrgeizigen Ausbauprogramms für Offshore-Windkraftwerke. "Die Lektion des vergangenen Jahres lautet, dass wir unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen endgültig ablegen müssen", erläuterte Staffell der Times. Zum Energiemix trug die Windkraft im Jahr 2022 immerhin 24 Prozent mehr bei als im Vorjahr, der Beitrag der Sonnenenergie ist übers vergangene Jahrzehnt von praktisch null sprunghaft angestiegen.

Hilfen gegen explodierende Energiekosten

Die konservative Regierung hat unter allen drei Premierministern des vergangenen Jahres den Bürgern und Bürgerinnen Unterstützung gegen die explodierenden Energiekosten zugesagt. In diesem Herbst und Winter ziehen die privaten Energieversorger von den monatlichen Strom- und Gasrechnungen für jeden Haushalt, egal ob Sozialhilfeempfänger oder Milliardär, einen Gesamtbetrag von 400 Pfund (451 Euro) ab.

Zusätzliche Beihilfen erhalten dazu noch Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und Rentner vom Sozialministerium. So beträgt die sogenannte Wärmeprämie für alle Alleinlebenden über 80 Jahre in diesem Winter umgerechnet 677 Euro. Premier Rishi Sunak dürfte schon bald weitere Subventionen bekanntgeben.

Hingegen bleibe die Regierung bis heute den Bürgern und Bürgerinnen Tipps zum Energiesparen schuldig, beklagt Sarah Merrick von der Kooperative Ripple Energy: "Das ist eine verpasste Gelegenheit, um die Rechnungen der Leute und gleichzeitig Emissionen zu verringern." Anders als in den vergleichbar großen Ländern Deutschland und Frankreich, wo der Energieverbrauch teils drastisch reduziert wurde, haben die Briten im Jahr 2022 mehr Strom verbraucht als im Jahr davor.

Prämien für Sparsame

Der Netzbetreiber National Grid hat nun aber immerhin mit einem Experiment begonnen: Einige Hunderttausend Kunden und Kundinnen der Energieversorger Eon oder Octopus Energy sollen Prämien erhalten, wenn sie in der häufig besonders schwierigen und verbrauchsstarken Zeit zwischen 17 und 19 Uhr abends möglichst wenig Strom verbrauchen. (Sebastian Borger aus London, 3.1.2023)