Joseph Ratzinger hätte sogar dem leibhaftigen Jesus Christus theologische Schnitzer einwandfrei nachgewiesen.

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Vor Benedikt XVI., dem eben verewigten "Papa emeritus", zogen sogar Taufscheinchristen ehrerbietig den Hut. Sein Leben lang erfreute Joseph Ratzinger Gläubige wie Gottesleugner mit Proben seiner schier unerschöpflichen Gelehrsamkeit. Bestimmt wäre dieser zarte Mann mit der singenden Stimme imstande gewesen, noch dem leibhaftigen Jesus Christus einige grobe theologische Schnitzer (Bergpredigt!) nachzuweisen.

Irgendwann sah der Papa aus Bayern, dass nicht alles gut war. Daraufhin streifte er die scharlachroten Schuhe des Fischers – weiche, kalbslederne Slipper aus der Werkstatt Adriano Stefanellis in Novara – kurzerhand von den Füßen. Er verbrachte den Rest seiner Erdentage in mopsfideler Zurückgezogenheit.

In den Jahren der Ära Kreisky betrachteten viele Menschen die Kirche mit ambivalenten Gefühlen. Katholikinnen wie meine Mutter lebten in "Sünde" – in Ehe mit einem geschiedenen, wiederverheirateten Mann. Dennoch besuchte sie unverdrossen jeden Sonntag die Messe. Verstohlen wie ein ungebetener Gast nahm sie auf der Kirchenbank Platz und sah den anderen beim Empfang der Hostie zu.

Umgekehrt zeigten Freigeister wie mein Vater reges Interesse an den Geschicken der für sie gar nicht zuständigen "Ecclesia aeterna". Obzwar konsequent kirchenabstinent, polemisierte er wüst gegen die Abhaltung der Messfeier in der jeweiligen Landessprache. Wo war bloß der erstickende Weihrauch geblieben? Selbst ich, ein schüchterner Babyboomer, lauschte unbeeindruckt dem Geschepper nachlässig gespannter Gitarrensaiten.

Ab ins Klosett

Es bedurfte des Besuchs eines Klosterkindergartens, um die Dinge ins Lot zu heben. Zorngeschwellte Schwestern in knisternder Tracht sperrten kleine Krakeeler wie mich ins Bubenklosett. Der Lichtschalter befand sich außen. Der Kommentar der Pädagoginnen: Kein Entrinnen, jetzt steckst du in der Hölle!

Es liegt in der Natur der katholischen Dinge, dass Joseph Ratzinger mein bloß vorweggenommenes Gefühl von Ewigkeit überwunden hat. Er hat es gegen die wahre Seligkeit eingetauscht. (Ronald Pohl, 4.1.2023)