Als ich unlängst hier die Frage an die Leserschaft stellte, ob wir Journalisten immer die richtigen Themen behandeln, gab es 740 Reaktionen von Postern und per E-Mail etwa zwei Dutzend teils sehr ausführliche Antworten.

Meine Vermutung, dass eine gewisse Überfütterung mit "Politik-Politik", also dem üblichen Gezänk unter Politikern bestünde, hat sich in diesen informellen – nicht völlig repräsentativen – Reaktionen ziemlich bestätigt. Verlangt wird, dass wir Journalisten uns mehr und intensiver mit den großen, strukturellen Themen befassen. Vor allem zwei Themenkomplexe stechen da heraus: Unter der großen Überschrift Umwelt/Klimawandel sollen wir uns mit vielen Problemen, vom Flächenfraß über "unsanften Tourismus" bis zu schwindender Biodiversität etc., beschäftigen, und zwar sowohl anhand von konkreten Fällen und Vorkommnissen wie auch in Form eines übergreifenden Zusammendenkens. Leserin Marianne Z. meint, dass auch soziale Ungerechtigkeit, Demokratie, Flüchtlinge, Krieg da hineingehören, weil "Umwelt, Soziales, Demokratie zusammen gedacht werden muss".

Andere weisen auf die strukturellen Defizite unserer österreichischen Verfasstheit hin, wo ein an sich funktionierender, hochentwickelter Staat da und dort ziemlich aus der Spur geraten ist. Leserin Anna V. fordert auf, "die Katastrophe eines fast 100 Jahre unveränderten Schulsystems aufzuzeigen", und knüpft daran den Vorschlag, "aktuell dazu die Folgen der Corona-Epidemie, deren politische Handhabung die Mängel an Weitblick gerade für die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche [zu] zeigen".

"Vermainstreamung"

"Strukturprobleme quer durchs Land bleiben bislang auch viel zu sehr im Verborgenen, vom Bildungssystem über die Parteienlandschaft, Föderalismus und dessen gravierende Auswirkungen, das Gesundheitswesen ...", schreibt Jürgen A. Die Migrationsproblematik wiederum werde nur von den rechten Parteien mit "dummen Symptombekämpfungen" behandelt. Die Frage nach den Gründen der Migration bleibe völlig unterbelichtet.

Zwei "Beschwerden" erscheinen ziemlich typisch: Klaus L. wünscht sich, dass der STANDARD nicht bei der "Vermainstreamung" der Medien mitmacht. Als Beispiele führt er Corona und Russland/Ukraine an. Schon, die "Meinungsvielfalt" darf aber nicht eine Verleugnung von Fakten bedeuten. Wer sagt, dass eine Pandemie eh nicht so schlimm oder überhaupt eingebildet ist, und wer den kriegsverbrecherischen Überfall auf die Ukraine relativiert, hat keine "andere Meinung", sondern verbreitet Falschinformation.

Leser Christian G. hält manche Themen nicht nur für "underreported", sondern für "overreported" und meint: "Wir halten es wirklich nicht mehr aus. Ein Thema, das 0,000-Ichweißnicht-wieviel Promille der Weltbevölkerung betrifft, ist für mich overreporting der extremsten Art." Der Leser ließ uns zuerst raten, was er meint: Wir wüssten es eh. Auf Nachfrage löst er das Rätsel: "Thema Trans, Queer, Gender-Fluidität usw." Okay, aber wir dürfen eines zu bedenken geben: Die Themen haben offenkundig gesellschaftliche Relevanz, werden millionenfach in sozialen Medien abgehandelt. Daran vorbeizugehen schont vielleicht die Nerven mancher Leser, wäre aber unprofessionell. (Hans Rauscher, 3.1.2023)