Europarechtler Stefan Brocza wundert sich in seinem Gastkommentar darüber, wie oft Österreichs Regierungsteam wichtigen Sitzungen in Brüssel ferngeblieben ist.

Was die innerstaatliche EU-Koordinierung angeht, ist Österreich Europameister. Nicht weniger als gleich drei Regierungsmitglieder – EU- und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler, Außenminister Alexander Schallenberg und seit dem 18. Juli auch Vizekanzler Werner Kogler – sind dafür zuständig, die einheitliche inhaltliche Position der Bundesregierung in EU-Fragen festzulegen. Wenn es dann aber darum geht, diese Position auch in den Brüsseler Entscheidungsgremien politisch möglichst hochrangig zu vertreten und durchzusetzen, dann sieht es um Österreich gleich nicht mehr so rosig aus.

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Dienstreiseziel Brüssel? Österreichs Regierungsteam lässt viele Sitzungen in Brüssel einfach aus. Geschickt wird dann die Vertretung. Reicht das wirklich?
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Waren in früheren Jahren etwa die Außenminister Michael Spindelegger oder Sebastian Kurz berüchtigt dafür, gleich auch schon mal mehrere Monate am Stück den EU-Entscheidungsgremien fernzubleiben, so stellt sich nun die Teilnahme der schwarz/türkis-grünen Ministerriege an EU-Ministerräten – immerhin dem höchsten und entscheidenden Gremium im EU-Gesetzgebungsprozess – etwas differenzierter dar. In bestimmten, durchaus bedeutenden Politikbereichen nahm Österreich im Jahr 2022 gleich gar nicht in korrekter Art und Weise teil, an anderen nur sporadisch. Um auch abstimmen zu können, muss man in einem EU-Ministerrat nämlich durch ein Regierungsmitglied vertreten sein. Wobei es die EU hier durchaus locker sieht: Es muss sich um irgendeinen Minister oder Staatssekretär handeln. Anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, also etwa hochrangigen Beamten, ist zwar erlaubt, sich zu Wort zu melden. Abstimmen dürfen sie aber eben nicht.

Spezielle Treffen

In den Politikbereichen Kohäsion, Gesundheit, Verkehr, Raumfahrt und Entwicklung hat es im vergangenen Jahr kein einziges Mal ein österreichisches Regierungsmitglied zu den entscheidenden EU-Ministerräten geschafft. Das Thema Kohäsion – also die Regional- und Strukturpolitik, immerhin der zweitgrößte Posten im EU-Budget – wird bei speziellen Treffen des Rates "Allgemeine Angelegenheiten" behandelt. Normalerweise nimmt an diesen Sitzungen Europaministerin Edtstadler teil. Diese hat zwar für sich persönlich eine nahezu makellose Teilnahmequote an EU-Treffen, bei Themen der Kohäsion – darauf legt das Bundeskanzleramt bei Nachfragen Wert – sei jedoch das Landwirtschaftsministerium zuständig. Dort reagiert man etwas überrascht, wenn man nachfragt, warum man denn nicht an den entscheidenden Ministerräten teilgenommen habe. Eine Erklärung erhält man jedoch keine.

Auch bei Entwicklungsfragen – einem Sonderformat der EU-Außenminister – glänzt Österreich durch Abwesenheit. Ist der umtriebige Außenminister Schallenberg auch sonst gern bei EU-Treffen vor Ort, sobald es um Entwicklungspolitik geht, glänzt er durch Abwesenheit. Da wird dann der Ständige Vertreter Österreichs in Brüssel bei der EU vorgeschickt. Immerhin ein Botschafter, mit Rede-, aber eben ohne Stimmrecht. Beim letzten diesbezüglichen Treffen im Herbst ging es übrigens ausschließlich um Afrika. Eine Weltgegend, zu der die österreichische Bundesregierung seit geraumer Zeit eine "innerstaatliche Gesamtstrategie" erarbeitet. Wenn es jedoch in Brüssel um Afrika geht, bleibt man als Minister dann lieber doch zu Hause.

Viel an Vertretung

Die letzten drei Politikbereiche, in denen Österreich durch "null Regierungspräsenz" in Brüssel auffiel, betreffen gleich zwei Grüne: Leonore Gewessler – bei Energie- und Umweltministertreffen zu 100 Prozent anwesend – bleibt bei Fragen der Verkehrspolitik und Raumfahrt konsequent abwesend. Dass sich ausgerechnet eine grüne Ministerin durch den Vertreter des Ständigen Vertreters in Brüssel vertreten lässt, verwundert da doch sehr. Das ist dann doch ein bisschen viel an Vertretung ausgerechnet bei einem für Österreich so heiklen Thema wie Verkehr (Stichwort: Transit). Und wenn man sich zu Hause voller Stolz mit der erst jüngst nominierten österreichischen Reserveastronautin im Astronautenkorps der europäischen Raumfahrtagentur Esa in den Medien abfeiern lässt, heißt das dann auch noch lange nicht, dass man sich bei Weltraumthemen in Brüssel einfindet. Auch hier: null Prozent Anwesenheit durch Gewessler.

Der zweite grüne Brüssel-Schwänzer ist Gesundheitsminister Johannes Rauch. Er nahm 2022 an keinem einzigen Treffen der EU-Gesundheitsminister teil. Das letzte Mal sah man ihn in einem EU-Ministerrat Ende März letzten Jahres – und da ging es um Sozialfragen. Die während Corona-Zeiten so betonte Wichtigkeit Brüssels scheint sich jedenfalls verflüchtigt zu haben. Die Auswertung, welche Regierungsmitglieder wie oft ihren Brüsseler Verpflichtung tatsächlich nachkamen, zeigt aber noch weitere Auffälligkeiten: Finanzminister Magnus Brunner schaffte es nur zu 70 Prozent, an seinen EU-Ministerräten auch persönlich teilzunehmen. Zu 20 Prozent ließ er sich durch einen Wiener Beamten vertreten, die restlichen zehn Prozent übernahm Staatssekretär Florian Tursky. Dass es sich dabei ausgerechnet auch um den viertägigen EU-Finanzministerrats-Marathon zum EU-Budget 2023 handelte, stößt politisch bitter auf. Es ging um viel, wirklich viel Geld. Substanzielle Wortmeldungen sind keine überliefert.

Traditionell Dauergast

Die größte Überraschung lieferte jedoch das Landwirtschaftsressort. Traditionell Dauergast bei EU-Ministerräten, schaffte man es am Wiener Stubenring diesmal nur in 50 Prozent der Fälle, korrekt auf EU-Ministerebene vertreten zu sein. Landwirtschaft ist bekanntlich der größte EU-Budgetposten, und den bisherigen Landwirtschaftsministern war es immer besonders wichtig, in Brüssel präsent zu sein. Dies scheint sich unter dem früheren Bauernbundfunktionär Norbert Totschnig nun geändert zu haben. Ein leiser, aber politisch bedeutender Schwenk in der Österreichs EU-Politik: Bei den finanziell großen Themen in der EU glänzt man durch Abwesenheit. (Stefan Brocza, 4.1.2023)