Élisabeth (Charlotte Gainsbourg) im Kreis ihrer Familie vor blauem Hintergund. In der Wärme der Wohnung finden Élisabeth, ihre Kinder und die Streunerin Talulah Zuflucht.

Foto: Nord-Ouest Films / Arte France Cinema

Sohnemann Mathias (Quito Rayon-Richter) und Streunerin Talulah (Noée Abita).

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"Les Passagers de la Nuit" heißt die Late-Night-Radiosendung, bei der die Mittvierzigerin Élisabeth nach der Scheidung Trost und Beschäftigung sucht und beides findet. Nun darf die schlaflose Elisabeth nachts Anrufe von Hörern und Hörerinnen entgegennehmen, darf aussortieren, wer zur taffen Moderatorin Vanda Dorval durchgestellt wird, darf die Geschichten der Schlaflosen kuratieren.

So lernt Élisabeth Talulah kennen, eines jener flatterhaften Geschöpfe, die die Late-Night-Sendung anzieht wie Motten das Licht. Élisabeth ist von der achtzehnjährigen Streunerin ergriffen und quartiert sie bei sich ein. Der etwas jüngere Sohn Mathias verliebt sich sofort in die Hübsche mit den traurigen Augen, die ältere, politisch aktive Schwester Judith ist anfangs skeptisch, wird dann aber belehrt: Sozial denken heißt auch sozial leben, also: Menschen helfen, die hilfsbedürftig sind. Judith wird dann bald zur Randfigur, genau wie die kühle Vanda (toll: Emanuelle Béart), und der abgängige Ehemann Élisabeths kommt gar nicht vor. Das hat Programm, denn in Mikhaël Hers’ zu Beginn der 1980er-Jahre angesiedelter Familiensaga geht es um die Sensiblen und Verlassenen: Élisabeth, Mathias und Talulah.

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Im Zentrum: Die Sensiblen

Charlotte Gainsbourg spielt Élisabeth radikal zärtlich. Mit ihrer unverwechselbaren sanften Stimme setzt sie sich langsam durch und findet wieder einen Platz in der Welt, ohne ihr Muttersein zu vernachlässigen. Mathias (Quito Rayon-Richter), ein Alter Ego des Regisseurs, ist ein verträumter Junge, verliebt, determiniert und hilfsbereit. Mit ihm schreibt Hers das Bild sensibler Männlichkeit fort, das er (gemeinsam mit Drehbuchautorin Maud Ameline) bereits in seinem Vorgängerfilm Mein Leben mit Amanda erprobte. Talulah (Noée Abita) verbleibt dagegen etwas in der Rolle der Projektionsfläche, die wir aus dem französischen Kino, etwa bei Vanessa Paradis, bereits kennen: elfenhaft schön, mit zartem Stimmchen, rätselhaft und heimatlos.

Atmosphärische 1980er

In Passagiere der Nacht geht es aber auch ums Sich-Aufrappeln. Persönlich wie politisch: Zu Beginn sehen wir, wie die Pariser den Wahlerfolg François Mitterands feiern, des ersten sozialistischen Staatsoberhaupts in der Geschichte der Französischen Republik. Anders als in England und den USA lautete das Credo im Frankreich der 1980er nicht Neoliberalisierung, sondern Sozialreform. Doch das politische Außen ist vor allem bläulich-kühle Kulisse: Hers arbeitet mit zahlreichen Archivaufnahme, filmische Formate wechseln, und die Körnung, die Farben des Bildes bleiben dem Gefühl der Ära treu. Halt finden die Protagonisten nicht im meist nächtlichen Außen, sondern in Élisabeths warmer Plattenbauwohnung. Die ist zwar in einer Banlieue gelegen, aber in einer, die lebenswert und architektonisch inspirierend wirkt, und der Blick aus den großen Fenstern ist niemals trist, sondern ungemein poetisch. (Valerie Dirk, 4.1.2023)