Subrahmanyam Jaishankar. "Es kann nicht sein, dass ihr Interessen habt und wir Prinzipien."


Heribert Corn

Subrahmanyam Jaishankar ist der erste indische Außenminister seit 27 Jahren, der Österreich besuchte.

Heribert Corn

In den letzten zwölf Monaten trafen Subrahmanyam Jaishankar und der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg bereits fünfmal aufeinander. Beim Besuch des indischen Außenministers in Wien schlossen Indien und Österreich nun eine Migrations- und Mobilitätspartnerschaft ab. Im Vorjahr haben mehr als 18.000 Menschen aus Indien Asyl beantragt, die meisten haben keine Chance hierzubleiben. In Hinblick auf den Krieg in der Ukraine betont Jaishankar, dass Europa nicht erwarten könne, dass Indien seine basalen Interessen im Konflikt mit Russland opfere.

STANDARD: Warum wollen so viele Menschen aus Indien nach Österreich?

Jaishankar: Das ist kein typisch österreichisches Phänomen. Es gibt in Indien ein großes Interesse daran, sich die globale Arbeitswelt anzusehen. Etwa 15 Millionen Inder arbeiten im Ausland.

STANDARD: Aber Inder und Inderinnen haben kaum Chance, in Österreich Asyl zu bekommen.

Jaishankar: Wir fördern legale Mobilität und Migration und sind gegen illegale Zuwanderung. Das ist auch gut für Österreichs Wirtschaft.

STANDARD: Außenminister Schallenberg hat große Erwartungen an den G20-Vorsitz Indiens. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Indien um Unterstützung gebeten. Welches sind die wichtigsten Prioritäten des Vorsitzes in Bezug auf die Ukraine?

Jaishankar: Verständlicherweise liegt der Fokus in Europa derzeit auf dem Ukraine-Konflikt. Aber in großen Teilen der Welt machen sich die Menschen Sorgen über hohe Energiepreise sowie Nahrungsmittel- und Düngerknappheit. Es sind Sorgen, die weit über den Konflikt in der Ukraine hinausgehen. Vor allem in den Entwicklungsländern, also dem Globalen Süden, gibt es viel Frustration darüber, dass ihre Sorgen von einem Großteil der Welt nicht gehört werden. Die G20 soll sich also mit den Problemen des finanziellen Wirtschaftswachstums befassen.

STANDARD: Indien hat aber Einfluss und verhielt sich in diesem Krieg lange Zeit neutral. In letzter Zeit hat es sich stärker distanziert. Warum?

Jaishankar: In den ersten Wochen und Monaten lag unser Fokus hauptsächlich darauf, die vielen indischen Studenten auszufliegen, die vom Konflikt überrascht wurden. Wir haben aber von Anfang an gesagt, dass wir gegen diesen Konflikt sind – und das sehr konsequent. Aber manchmal hört die Presse nur, was sie hören möchte. Wir glauben jedenfalls, dass Dialog und Diplomatie der richtige Weg sind. Differenzen werden am Verhandlungstisch beigelegt.

STANDARD: Trotzdem gab es keine offene Kritik, und Indien importiert weiterhin Waffen aus Russland, hat die Energieimporte sogar verstärkt. Profitiert Indien auch vom Krieg?

Jaishankar: Waffen aus Russland importieren wir seit über 60 Jahren, das ist nicht neu.

STANDARD: Aber der Krieg ist es.

Jaishankar: Ja, aber warum machen wir das? In diesen 60 Jahren zogen es die westlichen Länder, auch Europa, vor, Waffen an eine Militärdiktatur in Pakistan zu verkaufen. Das einzige Land, das zu dieser Zeit bereit war, uns zu helfen, war die Sowjetunion. Wenn wir also ein militärisches Arrangement mit Russland haben, ist das eine direkte Folge der westlichen Präferenz für Militärregime in unserem Teil der Welt. Was heute betrifft: Wenn man eine solche militärische Beziehung aufbaut, kann man sie nicht von heute auf morgen beenden und sagen: Ich bin jetzt sauer. Letzten Endes besteht die Verpflichtung jeder Regierung darin, sich um die Sicherheit ihres Landes zu kümmern. Wir werden unsere Sicherheit nicht opfern. Wenn also in Europa die Erwartung besteht, dass wir das tun, weil Europa ein Problem hat, dann ist das meiner Meinung nach keine vernünftige Erwartung.

STANDARD: Bei der Energie hat Indien die Zusammenarbeit sogar ausgebaut.

Jaishankar: Tatsächlich sind wir bis vor kurzem keine besonders großen Importeure russischer Energie gewesen. Dies begann sich zu ändern, als die Energiemärkte zunehmend verzerrt wurden. Noch bevor der Ukraine-Konflikt ausbrach, wurde unsere größte Energiequelle, der Iran, sanktioniert, und es wurde sehr schwierig, aus dem Iran zu importieren. Wir hatten einen anderen Energielieferanten, Venezuela. Venezuela wurde auch mit Sanktionen belegt. Europa importierte zu dieser Zeit weiterhin Energie aus Russland und war sehr zufrieden damit.

STANDARD: Jeder hat Interessen.

Jaishankar: Genau. Es kann also nicht sein, dass ihr Interessen habt und wir Prinzipien. Wir müssen einen Weg finden, unsere Prinzipien und Interessen in Einklang zu bringen. Was real am Energiemarkt passiert? Wir bekommen nicht einmal Antworten bei globalen Ausschreibungen, weil Europa Höchstpreise bezahlt. Jetzt fragen wir uns natürlich, wo wir Öl und Gas herbekommen können. Und wir gehen dorthin, wo es Möglichkeiten gibt.

STANDARD: Indien versteht sich als stolze Demokratie und ist dafür im Westen angesehen. Was müsste passieren, damit sich Indien noch stärker gegen autokratische Regime ausrichtet?

Jaishankar: Für mich besteht die Notwendigkeit einer sehr grundlegenden Debatte, was eigentlich die demokratische Welt ist. Wer richtet sich nach wem aus? Die scharfe Trennung zwischen Demokratie und Autokratie ist politisch praktisch. Man kann sie verwenden, je nachdem, wie man sie braucht. Indien hat zum Beispiel zeitweise eine Militärdiktatur im Westen in Pakistan und eine im Osten in Myanmar gehabt. Die in Myanmar wurde sanktioniert. Die in Pakistan wurde als wichtiger Verbündeter der Nato bezeichnet. Wenn es passt, heißt es: Lassen Sie uns Veränderungen durch Handel erreichen, lassen Sie uns mehr Geschäfte mit Autokratien machen, denn dann werden wir sie ändern. Oder es heißt aber: Lasst uns mehr Sanktionen gegen Autokratien verhängen, weil sie es verdienen. Am Ende des Tages kommen wir zurück zu den Prinzipien und Interessen.

STANDARD: Es gibt einige, die sich Sorgen um den Zustand demokratischer Institutionen in Indien machen. Wie begegnen Sie denen?

Jaishankar: Wir sind eine argumentationsfreudige Gesellschaft. Die Tatsache, dass Kritik geäußert wird, zeigt, dass es ein demokratisches Umfeld gibt. In der indischen Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein erheblicher Wandel vollzogen. Wir arbeiten sehr hart daran, die Menschen von der Qualität unserer Politik zu überzeugen. Wenn wir weniger demokratisch wären, warum sollten wir das machen?

Ich kann in jedem Teil der Welt, auch in Europa oder den USA, auf eine ganze Reihe von Themen hinweisen, die mir Sorgen machen: der Umgang mit Einwanderern und mit Minderheiten oder das Ausmaß der Überwachung. Es gibt kein Land, das keine Probleme hat.

STANDARD: Wie besorgt müssen wir über einen möglichen Krieg zwischen China und Indien sein?

Jaishankar: Wenn Länder Abkommen haben, müssen sie sich daran halten. Wenn Länder Differenzen haben, müssen sie diese besprechen. Wenn es aber zu einer Situation kommt, in der eine Seite sagt: Ich werde Truppen gegen Abkommen einsetzen, die ich selbst unterzeichnet habe, dann steckt darin eine Botschaft an die internationale Gemeinschaft. Insofern sollte die internationale Gemeinschaft besorgt sein. (Anna Sawerthal und Manuela Honsig-Erlenburg, 3.1.2023)