Im Gastblog schreibt Sexualberaterin Nicole Siller über unsere Ansprüche an den Orgasmus und plädiert für eine Offenheit beim Nachdenken über Lust.

Viele Mythen ranken sich um "guten Sex", um intensive, perfekte Orgasmen, viele Erwartungen sind daran geknüpft. Einerseits glauben viele, Sex ist nur gut, wenn er mit einem orgiastischen Feuerwerk endet – das ist natürlich schön, unumstritten. Andererseits: Würden wir orgiastische Feuerwerke so intensiv genießen können, wenn wir sie auf "Knopfdruck" immer hätten? Eben.

Guter Sex als Leistungsprinzip?

Körperreaktionen und -reflexe können wir nicht unbedingt gezielt steuern, da haben wir tatsächlich weniger Kontrolle, als viele sich das wünschen. Vor allem auch, weil unsere Gefühle oft unbewusst eine große Rolle spielen und wir in einer Zeit leben, in der wir uns immer weniger spüren. Erregung hängt oft auch mit Unerwartetem, Leichtem, Spielerischem zusammen.

Zu einer gelungenen Erregung gehört auch, für neue Bedürfnisse offen zu sein.
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Die Jagd nach den perfekten Orgasmen macht sowohl vielen Männern wie auch Frauen unglaublichen Druck. Denn offenbar ist auch Sex für viele Menschen zu einer Art Leistung geworden, etwas, in dem wir "gut sein müssen", das regelmäßig und perfekt sein soll. Und wenn's nicht von selbst klappt, liegt es zu oft sehr nahe, der anderen Person die Schuld zu geben, Pillen zu schlucken, Spielzeuge zu kaufen. Manche hängen an fixen Ideen fest und machen immer mehr von dem, was schon länger nicht funktioniert hat. Schade, doch es gibt mehr Wege zu gelungener Lust.

Schwierigkeiten beim Orgasmus

Fast jeder Mensch hat im Laufe seines Lebens irgendwann mal Phasen, in denen der Körper, die Psyche, der Kopf, nicht ganz so mitspielen, wie man sich das wünscht. Manche können den Kopf kaum abschalten und zu wenig im Körper-Spüren ankommen, der Körper und der Kopf sind nun mal essentielle Lustinstrumente. Manchmal steht der ganze Mensch so unter Anspannung, dass der Wechsel zur Entspannung unmöglich scheint. Manche brauchen extreme Anspannung zur Erregung, andere totale Entspannung. Andere können nur auf einem ganz bestimmten Weg zur Erregung kommen, der mit der Zeit eng oder auch angestrengt wird. Manchmal fehlt auch der Kick, wenn wir unsere Geschlechtsorgane mit genau einer Variante immer und immer wieder konditioniert haben, dann darf der Körper wieder umlernen. Es gibt immer professionelle Hilfe, die dem Körper, der Psyche, dem Kopf, den ganzen Menschen unterstützt, wieder in freudiges Gestalten zu kommen.

Ich und/oder du?

Oft erwarten wir, dass der Mensch, dem wir nahekommen, doch spüren, sehen, riechen, hören, ahnen muss, was, wo und wie genau wir uns jetzt Berührung wünschen. Hier liegen ein paar Fallen. Eine Falle ist, dass es schwierig bis unmöglich ist, den anderen immer genau und mit allen Sinnen so wahrzunehmen, sodass der berauschende Höhenflug ganz ohne eigenes Zutun gelingt.

Es hilft also durchaus, miteinander zu kommunizieren. Ob mit Worten, Gesten, Körperbewegungen, Stöhnen, wie auch immer. Wir dürfen selbst Verantwortung für unsere Erregung und Orgasmen übernehmen. Dies gelingt natürlich dann besonders gut, wenn wir zeigen können, was wir wollen und mit Partnern Sexualität genießen dürfen, die bereit sind, sich auf die Begegnung und uns einzulassen und nicht ihr 08/15-Programm abspielen, um selbst rasch zu kommen.

Eine andere Falle, wenn wir einander schon gut glauben zu kennen, ist, immer wieder das zu wiederholen, von dem wir wissen, dass es der anderen Person irgendwann mal gefallen hat. So wird der "perfekteste Orgasmus" ganz sicher auch irgendwann erwartbar und unspannend, vielleicht reagiert der Körper gar nicht mehr so sehr darauf.

Die Sache mit der Bestätigung

Ja, es ist schön, wenn wir sehen: "Ich kann meinen Partner sehr erregen, zu Orgasmen forcieren!" So manch einer zieht daraus die Bestätigung, "gut zu sein", ja vielleicht auch Macht über den anderen und dessen Erregung zu haben. Phasenweise ist das vielleicht erregender Teil des Spiels. Spiele verändern sich, Spielwiesen können bunt und lebendig bleiben, wenn wir nicht immer einen bestimmten Weg gehen. Vielleicht wollen wir auch mal wieder probieren, spielerisch erkunden, absichtslos Körperspielen oder uns auch inszenieren?

Der Weg ist das Ziel

Immer wieder finde ich mit Menschen heraus, wie sie sich eigentlich bei gutem Sex fühlen wollen, was das für sie persönlich heißt und was sie dazu selbst beitragen können. Oft stellt sich heraus, welche Glaubenssätze uns im Weg stehen, was wir uns alles selbst nicht erlauben oder einengend bewerten. Oft geht es weniger nur ums Tun, mehr auch ums Sein, ganz im Augenblick. Es geht auch um's Loslassen und Erkunden, aber natürlich auch um Interaktion. Manchmal ist es natürlich ein längerer Weg, von den erlernten Regeln und Erwartungen zum authentischen Spüren und Gestalten zu kommen, jedoch kann jeder einzelne, noch so kleiner Schritt ein befreiender sein.

Üben wir neue Gedanken und lassen das los, was wir kennen, also bestimmte Stellungen und "to dos", "es richtig" machen zu wollen. Spüren wir mehr, wie es im Moment gerade dem Menschen, den Körpern geht. Ich kann aus meiner jahrelangen Arbeit heraus sagen, fast jeder Mensch möchte sich beim Sex lebendig fühlen und mit den aktuellen Bedürfnissen richtig wahrgenommen werden. Es gibt eine tiefe Sehnsucht, in intimen, nahen Momenten Erregung forcieren zu können, bis sie sich zum "point of no return" steigert, dem Moment, in dem wir spüren, jetzt gibt es kein Zurück mehr, jetzt gleich erleben wir einen Orgasmus. (Nicole Siller, 6.1.2023)